Valentina II

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Ich finde mich selbst nur wenige Augenblicke später auf dem Mädchenklo wieder, über jenes ich soeben noch in Gedanken hergezogen bin. Meine Unterarme jucken und mir ist schon in dem Block vor Geschichte aufgefallen, dass die Pflaster durchgeweicht sind. Ich habe mir gesagt, dass ich es schon noch durchhalte, doch ich trage heute ein Shirt von meiner Mutter- ihr liebstes um genau zu sein- weil meine eigenen nicht für eine ganze Woche gereicht haben und ich möchte mir später nicht anhören müssen, wieso sich Blutflecken an den Ärmeln ihres Shirts befinden.

Ich ziehe die Pflaster mit einem schnellen Ruck ab- genau wie meine Mutter es mir zu Kindertagen gezeigt und ich es an meine Geschwister weitergegeben habe- und werfe sie in den Müll. Anschließend wasche ich die Blutkruste unter einem der verklebten Waschbecken ab und sehe dabei zu wie die Beweise dafür, dass ich hier war, im Abfluss verschwinden. Danach krame ich in dem My Little Pony Rucksack nach einem Pflaster.

Ich, als mir auffällt, dass ich die Pflaster gestern bereits aufgebraucht habe: „Fuck".

Jemand, dessen Stimme ich nicht erkenne: „Willst du eins von mir haben?"

Ich zucke zusammen, als jemand plötzlich, für meine Verhältnisse, viel zu nahe neben mir steht. Angstschweiß bricht an meiner Stirn aus, obwohl ich insgeheim immer gehofft habe, dass jemand meine Wunden sieht und etwas unternimmt. Aber die Menschheit ist egoistisch. Diese Hoffnung habe ich also schon vor langer Zeit aufgegeben.

Als ich den Blick hebe steht Silly neben mir und sieht mich an. Sie sieht mich eindringlich an. Nicht besorgt, nicht mitleidig. Sie beobachtet mich lediglich mit ihren großen Rehaugen. Ich starre perplex zurück. Ich bin viel zu überrascht, dass Silly mich, nach all den ermüdenden Auseinandersetzungen die ich mit mir selbst hatte, anspricht, als wäre es das Einfachste überhaupt. Vielleicht ist es das für sie ja auch.

Silly: „Hallo?"

Wahrscheinlich fragt sie das, weil ich nicht antworte und sie meinen Namen nicht kennt. Sie ist nicht wie ich. Sie macht sich nicht über alles Gedanken und hasst sich dafür. Sie ist normal. Sie führt ein tolles Leben. Lacht viel, macht Scherze, hat eine Freundin und einen besten Freund. Sie hat alles was ich je wollte- und mehr. Alle haben alles was ich je wollte und mehr. Ich verstehe nicht, wieso gerade ich so sehr vom Universum gehasst werde.

Ich: „Was hast du gesagt?"

Silly: „Ich habe dich gefragt ob du ein Pflaster haben willst".

Darauf nicke ich nur und warte, bis sie eines aus ihrer Jeanstasche fischt. Ich frage nicht, woher sie es hat oder gar wieso. Dazu fehlt mir der Mut. Und ich will sie nicht in eine unangenehme Situation bringen, denn ich würde es hassen, wenn mich jemand fragen würde, wieso ich Pflaster mit mir herum trage.

Silly: „Hier bitte. Sie sind nicht groß genug und haben Dinosaurieraufdrucke, aber Pflaster ist Pflaster, oder?"

Ich zucke mit den Schultern und nehme die beiden grellgelben Pflaster mit den Dinoköpfen darauf entgegen. Etwas ungeschickt klebe ich sie dann auf die halboffenen Wunden an meinen Unterarmen und versuche nicht verrückt zu werden, nur weil Silvia immer noch neben mir steht und nicht einfach das Mädchenklo verlässt.

Silly: „Ich bin übrigens hier, weil du einen Stift auf deinem Tisch liegen lassen hast".

Die Braunhaarige zeigt mir den Bleistift mit irgendwelchen Cartoons darauf- ebenfalls aus einem Angebot- und steckt ihn anschließend in meinen Rucksack, welcher neben mir auf dem Boden steht, weil ich noch mit dem Aufkleben der Pflaster beschäftigt bin.

Silly: „Hey, ähm. Ich weiß, dass es mich absolut nichts angeht aber ähm...bekommst du Hilfe von irgendwem? Ich meine, du weißt schon, wegen den Wunden?"

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