Als Valentina die letzten Schritte bis zum Abgrund des Daches ihrer Schule macht, fühlt sie sich seltsam verraten. Sie ist sich sicher, dass sie springen will. Zu lange hat sie jetzt schon auf diesem Moment gewartet. Auf die Erlösung. Doch ihre Beine wollen ihr etwas anderes erzählen, denn sie sind weich wie Gummi und die Jugendliche droht jeden Moment zusammenzubrechen. Vielleicht, weil sie am Morgen und den vergangenen Tag nichts gegessen hat. Verschwendung, hat sie bloß gedacht und das Essen an ihre Geschwister weitergegeben. Sie würden es besser nutzen als Valentina.
Kurz vor dem Abgrund bleibt sie stehen. Ihre abgetragenen no-name Schuhe gehen mit den Spitzen schon etwas über die Beschichtung des Daches hinaus. Sie hat sich vorgestellt von einem dieser Dächer zu springen, die man immer in Filmen sieht; die begehbar sind. Aber jetzt steht sie auf irgendso einer unebenen Beschichtung und ist durch ein Fenster nach oben hochgekommen. Dabei hat sie sich den Ellenbogen angestoßen, aber auch das war ihr egal. Genau wie das mit dem Essen. Nachdem sie erst einmal gesprungen wäre, würde das sowieso niemanden mehr interessieren.
Valentina hat in dem letzten Jahr über verschiedenste Arten nachgedacht zu sterben. Die erste war ein Schuss in den Kopf- die schmerzloseste Variante wie sie dachte. Blöd nur, dass ihr Vater zwar ein Gangsta und ein Arschloch ist, aber eben nicht genug um eine derartige Waffe zu besitzen. Als nächstes kam ein tiefer Schnitt über die Pulsader infrage. Das würde aber zu viel Blut erzeugen und eventuell ihre Geschwister total verstören. Also den Föhn in die Badewanne. Es könnte aussehen, als ob es nicht einmal Valentinas Absicht gewesen wäre, diese Welt zu verlassen. Gut, wenn sie an ihre Geschwister dachte. Aber sie will eben auch, dass das Arschloch weiß, dass er sie dazu getrieben hat- auch wenn sie ihm nichts bedeutet. Doch auch hier fehlten ihr die Mittel. Denn zuhause haben sie weder eine Badewanne, noch einen Föhn. Sich zu erhängen kam nicht infrage. Zu dramatisch. Und Valentina wüsste auch gar nicht, wo sie so ein Seil anbringen geschweige denn auftreiben würde.
Und nachdem sie all diese Gedanken und Möglichkeiten genau bedacht hat, ist sie zu dem Entschluss gekommen, dass der Sprung von einem hohen Gebäude wohl das sinnvollste wäre. Und mit sieben Stockwerken ist ihre Schule da das Höchste, zu dem sie zutritt hat.
Valentina wirft noch einen letzten Blick über die Stadt- zumindest den Teil, den sie von sich aus erkennen kann. Ein paar Bäume, Straßen, alte Häuser, ein Spielplatz. Alles irgendwie mit Erinnerungen verbunden, jedoch ist keine von ihnen eine sonderlich schöne. Die Schule, an der sie immer gequält und gelegentlich von dem Arschloch abgeholt wurde, damit sie auch ja nicht nochmal zur Polizei gehe. Oder der Spielplatz, an dem sie immer alleine gespielt hat, weil niemand mit ihr befreundet sein wollte. Der lange Weg, den sie jeden Morgen mit ihren Geschwistern zu Fuß zur Schule zurücklegen muss- verletzt oder nicht. Letzteres kam aber mit der Zeit immer seltener vor. Wenn sie sich alles so noch einmal durch den Kopf gehen lässt, so gibt es keine guten Erinnerungen. Und wenn doch, dann liegen sie irgendwo unter den überwiegenden schlechten Erinnerungen in irgendeiner Ecke ihres Gedächtnisses vergraben.
Das hat jetzt ein Ende, sagt sie sich und atmet noch einmal tief durch. Wahrscheinlich wird es ihr letzter Atemzug sein. Sie ist zwar nie von einem Turm in ein Schwimmbecken gesprungen, der so hoch ist wie die Schule, doch wenn sie sich recht erinnert, so hat sie beim Fall vom Dreier nach unten auch nicht geatmet. Letztendlich ist es zu ihrer jetzigen Situation kein großer Unterschied. Es ist zwar höher, aber es ist trotzdem nur ein Sprung. Man braucht genug Mut, dann kann man es schaffen- oder in Valentinas Fall Verzweiflung und Schmerz. Es ist nur ein Sprung. Das ist nicht so schwer.
Und dann setzt sie den ersten Fuß über den Abgrund. Da ist dieses Gefühl in ihrer Magengegend, welches ihr sagt das Ganze zu überdenken. Doch der Schmerz, die Verzweiflung und die Stimme in ihrem Kopf übertönen das Gefühl. Sie muss es beenden. Endlich vom Leid erlöst werden. Also spannt sie die Muskeln in ihrem anderen Bein ein letztes Mal an und springt.
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What's even normal? ✔️
Jugendliteratur„Da fällt mir ein, dass du jetzt meine dreckigen Geheimnisse kennst, ich aber nicht deine. Hast du zufällig mit irgendwem rumgemacht, dessen Identität wir auch noch irgendwie analysieren könnten?" „Nicht dass ich wüsste", erwidert Silvia und lacht. ...