Erst ein Schlag, dann noch einer. Meine Mutter geht, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben, zu Boden. Sie weiß, dass es nur schlimmer wird, wenn sie schreit. Genau wie ich weiß, dass es schlimmer wird, wenn ich dazwischen gehe. Trotzdem kann ich nicht einfach nur zusehen. Ich halte meine jüngere Schwester und meinen kleinen Bruder fest an mich geklammert, als könnten wir der Situation so entkommen. Mir laufen dicke, heiße Tränen über die Wangen, doch ich wische sie nicht ab und gebe auch keine Laute von mir- weil ich nicht möchte, dass meine Geschwister merken, wir sehr mir dieser Anblick zusetzt.
Mein Blick trifft den meiner Mutter, wie sie am Boden kauert und zittert. Sie ist erbärmlich und schwach und ich frage mich jedes Mal erneut wie sie so blöd sein konnte, sich gerade in unseren Vater zu verlieben. Er ist der schlimmste Mensch auf diesem Planeten. Der grausamste Mensch, den ich kenne. Er ist ein Mensch und kommt mir doch so unmenschlich vor, wenn man bedenkt, was er seiner Frau und seinen Kindern antut.
Der hässliche, knochige Mann flucht etwas, beleidigt unsere Mutter. Es sind Worte so dreckig, wie ich sie in meinem Leben noch nie gehört habe. Und doch weiß ich, dass es Beleidigungen sind. Auch wenn ich es nicht an seinem Tonfall erkannt hätte, so hätte ich es gewusst. Immerhin tut er kaum etwas anderes als Mom und uns zu beleidigen. Meiner Mutter läuft eine Träne über die Wange und sie fleht das Arschloch an. Als ob es das besser machen würde. Als ob sie irgendwas tun könnte, um es besser zu machen. Ich wende den Blick ab und unterbreche den Augenkontakt zwischen meiner Mutter und mir. Ich halte es nicht mehr aus.
Ich nehme meine Geschwister bei den Händen und ziehe sie vom Schauplatz davon. Sie sollten so etwas nicht sehen. Niemand sollte so etwas sehen. Und trotzdem wird nichts dagegen unternommen. Unsere Nachbarn wissen, was das Arschloch mit unserer Mutter macht. Ihre Kollegen sehen die blauen Flecken, die Lehrer meine. Doch niemand hat den Mut uns zu helfen.
Das Arschloch verpasst mir eine saftige Ohrfeige, als ich nachhause komme. Ich weiß nicht wieso. Meine Testergebnisse und Klausuren zeige ich ihm schon lange nicht mehr- weil sie ihm doch nie genug sind. Nur meine Zeugnisse kriegt er zu Gesicht. Das reicht schon aus, um mich zu schlagen. Er holt ein zweites Mal aus, das sehe ich genau. Ich sehe es genau und doch weiche ich nicht aus. Weil ich weiß, dass es das nur noch schlimmer macht. Also schlucke ich nur und warte darauf, dass der Schmerz eintrifft. Ich kneife die Augen fest zusammen und höre es klatschen, doch spüre nicht das bekannte Ziehen in meiner Wange. Also öffne ich meine Augen wieder, nur um zu sehen, dass mein kleiner Bruder sich vor mich gestellt und an meiner Stelle die Schelle kassiert hat.
Er ist erst acht und trotzdem hat er einen ausgeprägten Sinn dafür anderen zu helfen- den hatte ich in seinem Alter auch noch. Ich habe anderen gerne geholfen, weil ich wusste, dass ich mich auch darüber freuen würde. Doch jetzt weiß ich es besser. Ich bin alt genug und habe ausreichend Erfahrung um zu wissen, dass es nur schlimmer wird, wenn ich mich einmische. Wenn ich dem Arschloch sage, dass er meine Mutter in Ruhe lassen soll. Er hört nicht; stattdessen schlägt er uns beide. Erst hat er es bei mir gemacht, jetzt bei meinem Bruder. Der Kleine wird es irgendwann verstehen und lernen, wann er sich zurückhalten muss.
Mein Herz zerbricht in unendlich viele kleine Stücke, als das Arschloch meine Schwester zum ersten Mal schlägt. Sie ist gerade sechs geworden und in ihren Kindertagen eine Frohnatur gewesen Ich hatte immer Respekt davor und habe mich gefreut, dass sie so glücklich an einem Ort wie diesem sein kann. Doch dieser Mensch ist sie nicht lange geblieben. Seit sie den ersten Wutanfall hatte und eine ihrer Mitschülerinnen angegriffen hat und das Arschloch Geld an die Eltern zahlen musste, ist sie ein Opfer seines Terrors, genau wie mein Bruder und ich. Seitdem hatte die Kleine mehrere Wutanfälle. Sie hat es so gelernt; das Arschloch macht es schließlich nicht anders.
Aber auch sie wird noch lernen, dass das nicht normal ist. Sie wird lernen was für ein Arschloch der Mann ist, den sie als Vater bezeichnet und sie wird lernen den Mund zu halten. Genau wie mein Bruder es lernen wird und ich es gelernt habe. Wir werden alles still ertragen, weil wir es nicht besser machen können. Egal was wir tun. Das Arschloch bleibt ein Arschloch.
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What's even normal? ✔️
Teen Fiction„Da fällt mir ein, dass du jetzt meine dreckigen Geheimnisse kennst, ich aber nicht deine. Hast du zufällig mit irgendwem rumgemacht, dessen Identität wir auch noch irgendwie analysieren könnten?" „Nicht dass ich wüsste", erwidert Silvia und lacht. ...