Kapitel 1: Der letzte Schritt...?

34 2 2
                                    

Die aufgehende Sonne.

Das Glitzern im kleinen Bach, der circa dreizehn Meter unter mir verläuft.

Laubbäume, die langsam Farbe bekommen.

All das sind Dinge, die ich sehen werde. Nur wenige Augenblicke bevor ich mich endlich traue.

Mich traue, einen letzten Schritt zu gehen. Den letzten Schritt zur finalen Erlösung.

Aber bis es soweit ist, werden noch einige Minuten vergehen...

Als ich auf die Küchenuhr schaue, ist es 4:32 Uhr. Meine Mutter hat mich vor einer halben Stunde geweckt, um mir Bescheid zu geben, dass sie jetzt zusammen mit meinem Stiefvater und meinem Halbbruder losfahren.

Letzte Woche haben die Sommerferien begonnen und jetzt ist meine Familie auf den Weg nach Italien. „Familienurlaub“. So wird dieser Ausflug von ihnen genannt. Vor zwei Wochen wurde es mir verkündet. „Am Morgen des dritten Augusts werden deine Mutter, Niko und ich zusammen nach Catanzaro fahren und dort zehn Tage Familienurlaub machen. Wir werden uns die Gegend dort anschauen und uns am Strand entspannen. Aber du hast ja sowieso keine Lust auf so etwas.“, meinte Georg, mein Stiefvater, als ich ihm an einem Nachmittag in der Küche begegnete. Recht hatte er zwar, aber ich fand es trotzdem merkwürdig, das als Familienurlaub zu betiteln.

Jetzt ist mir das aber auch egal. Es war nun Zeit, loszugehen. Während ich mir eine dünne Jacke überziehe, blicke ich in den Spiegel. Ich sehe ein dickes, blasses Mädchen. Ihre dunkelblonden Haare sind am Ansatz schon leicht fettig. Ihr Gesicht ist mit Pickeln übersät und an ihren faden, blaugrauen Augen zeichnen sich deutlich Augenringe ab. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt, eine graue Jogginghose und zieht nun eine dunkelblaue Jacke an. Ihre Mimik ist ausdruckslos und ihre Körperhaltung scheint auch eher gelangweilt und antriebslos.

Jedes Mal, wenn ich mich im Spiegel sehe, fühlt es sich so an, als sei die Person im Spiegel eine andere Person. Ich weiß nicht warum, aber ich fühle einfach keine Verbundenheit zu diesen Körper.

Ich schlüpfe noch in meine schwarzen Sneaker und verlasse das Haus.

Nach etwa zwanzig Minuten komme ich bei der Brücke an, an der ich endlich aus meiner jetzigen Situation entkommen kann. Das, das ich vorhabe, ist wahrscheinlich sehr konsequent und übertrieben, doch ich sehe keinen anderen Ausweg. Und Weiterkämpfen hat auch keinen Sinn mehr, da ich keinen Grund dafür erkenne.

Auf dem Weg hierher habe ich keine einzige Person gesehen. Und auch jetzt kann ich niemanden sehen. Wer sollte auch schon um diese Uhrzeit hier irgendwo in der Pampa herumlaufen? Ich klettere über das Geländer der Brücke. Gerade rechtzeitig.

Die aufgehende Sonne.

Das Glitzern im kleinen Bach, der circa dreizehn Meter unter mir verläuft.

Laubbäume, die langsam Farbe bekommen.

All das sind Dinge, die ich nun sehe. Nur wenige Augenblicke bevor ich mich endlich traue.

Mich traue, einen letzten Schritt zu gehen. Den letzten Schritt zur finalen Erlösung.

Trotz des schönen Anblicks spüre ich nur eine gähnende Leere in mir. Alles scheint dunkel und kalt. Meine Gedanken sind düster. Freuen auf die Erlösung kann ich mich nicht. Aber ich bin auch nicht traurig, deprimiert, wütend oder enttäuscht. Nur müde. So unendlich müde.

Ich hole einmal tief Luft und...

Zynischer EngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt