1. Kapitel

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Kei POV

„Hey! Kei! Dein Regenschirm!", rief Kazuko.
„Brauch ich nicht!", antwortete ich und schlüpfte in meine Schuhe.
„Es regnet! Da draußen ist ein richtiges Unwetter!"
Ich sah auf und Kazuko stand da, die Arme verschränkt. Ihr braunes Haar hatte sie zu einem Dutt gebunden, ein paar Strähnen fielen heraus. Ihre rehbraunen Augen sahen mich tadelnd an. Ich sah auf ihre Brust, die sehr üppig war.

„Zieh dir lieber einen BH an, wenn dein Vater gleich nach Hause kommt", sagte ich grinsend und schnappte mir einen Regenschirm, der vor der Haustür an der Wand gelehnt war.
Sie wurde knallrot, zog ihre verschränkten Arme ein bisschen höher, bedeckte ihre Brüste damit. Sie trug nur ein rotes T-Shirt. Und ihr Höschen. Blau, mit weißen Streifen.
„Bis morgen!", verabschiedete ich mich und drückte die Türklinke hinunter.
„Komm morgen aber auch in die Schule!", rief sie zurück. Ich streckte den Daumen hoch und schloss dann die Tür hinter mir, sah in den Regen.
Kazuko hatte Recht. Es regnete wirklich heftig. Ich öffnete den Regenschirm und sah ihn kritisch an. Pink. Na toll. 

Autos fuhren an mir vorbei, durch Pfützen, das Wasser spritzte wild in alle Richtungen, weshalb ich nach kurzer Zeit trotz Regenschirm nass war.
„Scheiße, passt doch auf!", knurrte ich vor mich hin, lief schneller den Gehweg entlang.
Ich seufzte, bei dem Gedanken, dass ich mich gleich in einen Bus mit völlig durchnässten Leuten quetschen musste...
Vielleicht sollte ich warten, bis der Regen aufhörte? Doch das konnte ewig dauern. Mein Magen knurrte und ich blieb stehen, zog meinen Geldbeutel aus meiner Hosentasche. Kazuko konnte einfach nicht kochen. Ich hatte eine Freundin, die nicht kochen kann, na toll. Und ich konnte es auch nicht.
Deshalb beschloss ich, mir noch etwas zu Essen zu holen, bei einem Bäcker oder so etwas. Und so lief ich weiter, mitten ins Herz der Fußgängerzone in der großen, hässlichen Stadt, in der ich lebte und klopfte eine Zigarette aus meiner Schachtel, hielt Ausschau nach einem Bäcker, oder irgendwas, wo ich mir etwas zu Essen kaufen konnte.

Eine Obdachlose saß zitternd unter dem Dach eines Kleidungsgeschäfts, schüttete das Kleingeld, welches sie in einer Tasse gesammelt hatte, in ihre Jackentasche.
Die hatten es echt nicht leicht... Es waren immer dieselben, die man hier sah...
Ich ging weiter und blieb dann wie angewurzelt stehen. Die Zigarette, welche ich in meinen Mundwinkel geklemmt hatte, fiel zu Boden. Mein Herz klopfte, das Geräusch des Regens verschwand, ich hörte nur noch mein Herz, spürte den stechenden Schmerz und zog scharf die Luft ein.

Neben der Obdachlosen saß noch jemand. Er saß aber nicht unter dem Dach, sondern mitten im Regen. Bewegte sich nicht. Für einen kurzen Moment dachte ich, er wäre es gewesen. Doch das war unmöglich. Ich blinzelte, biss die Zähne zusammen und sah die zusammengekauerte Gestalt genauer an. Es war nur ein anderer Obdachloser... Nur ein anderer..., beruhigte ich mich und endlich klopfte mein Herz nicht mehr so schnell. Ich beruhigte mich so langsam wieder. Das Geräusch des Regens und das Plappern der Menschen, die Aufschreie, als sie Schutz vor dem Regen suchten, ertönte wieder und ich seufzte erleichtert. 

Aber er sah ihm wirklich verdammt ähnlich, dachte ich, als ich den Jungen, der da mitten im Regen saß, genauer ansah. Er hatte die Augen geschlossen, war völlig durchnässt. Seine blonden Haare klebten ihm im Gesicht. Doch die kleine Stupsnase, das weiche Kinn... Wieso sah er ihm nur so ähnlich? Ich musste näher hingehen. Ohne nachzudenken machte ich ein paar Schritte auf ihn zu, stand nun direkt vor ihm. Und da sah er auf und ich riss die Augen auf.
Blaue Augen. Eisblau. Mit kleinen, dunkelblauen Wirbeln darin. Er hatte große Augen, von dichten, schwarzen Wimpern umgeben. Fast dachte ich, dass es ein Mädchen wäre, doch ein kurzer Blick auf seinen Oberkörper, und ich war mich sicher, dass er ein Junge war.
Wieso saß er hier alleine in der Kälte,  mitten im Regen? Er war kein Obdachloser, das konnte ich an seiner klatschnassen Kleidung erkennen. Die meisten Obdachlosen hatten kaputte, zerlumpte Kleidung, er jedoch nicht.

Er starrte mich an, und sein Blick war so leer. So unendlich leer. Seine Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Er sah aus, als wäre er tot. Und er sah ihm so verdammt ähnlich, dass es mein Herz zerriss, als ich ihn nur ansah. Langsam beugte ich mich hinunter, ging auf die Knie und hielt meinen Regenschirm über seinen Kopf. Sofort spürte ich den eiskalten Regen auf mich niederprasseln, doch es störte mich nicht. 

„Willst du mit zu mir kommen?", fragte ich, bevor ich überhaupt nachdenken konnte. Mein Mund bewegte sich von ganz allein, und nun auch meine Hand, die ich ihm langsam reichte.
Kurz dachte ich, er wäre vielleicht taub oder so etwas. Er reagierte nicht, starrte mich nur mit diesen Augen an. Mit diesen toten, leeren Augen. Ich fühlte mich wie in Trance, wie als würde ich träumen, als er plötzlich meine Hand ergriff. Ich zog ihn auf die Beine und stützte ihn, wobei der Regenschirm zu Boden fiel.
„Kannst du laufen?", fragte ich, der Junge nickte.
Wir liefen los, und ich fragte mich, was ich da eigentlich tat. Sein Arm, den ich um meine Schulter gelegt hatte, das Gewicht, als ich ihn stützte... Er war so leicht. Als wäre er gar nicht wirklich da. 

So konnte man nicht Bus fahren. Er war total schwach, konnte nicht einmal selbst laufen. Also drückte ich ihn unter einem Dach auf eine Bank und zückte mein Handy, wählte die Nummer des Taxidienstes.
Keiner sagte ein Wort. Konnte der Junge überhaupt reden? Warum nahm ich einfach einen wildfremden Jungen mit zu mir? Ich wusste die Antwort, wieso ich das tat, natürlich wusste ich es. Er sah ihm ähnlich. Er sah ihm nicht nur ähnlich, er sah fast ganz genau so aus wie er. Wie er, wie Shin. Es war, als würde Shin gerade vor mir sitzen. Als wäre er es wirklich. Doch einen Unterschied gab es, zum Glück. Shin hatte grüne Augen gehabt. Der Junge, der völlig teilnahmslos auf der Bank saß, hatte eisblaue. Doch das war auch der einzige Unterschied...
Es hupte und ich sah auf. Das Taxi stand vor uns, die knallgelbe Farbe stach mir in die Augen.
Seufzend zog ich den Jungen hoch und lief mit ihm zum Taxi, dachte mit voller Sorge an meinen nun leeren Geldbeutel.


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