Kapitel 3

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Obwohl ich fest geschlafen und kein Traum meine Ruhe gestört hatte, fühlte ich mich wie gerädert. Meine Nacht musste einfach viel zu kurz gewesen sein, bevor Ilvy an meiner Tür geklopft und mir bekannt gegeben hatte, dass es bald Essen geben würde. Bevor es mir möglich gewesen war, in den Schlaf zu finden, hatte ich immer wieder die Stimme meiner Oma gehört, die schluchzend gefragt hatte, was mit mir geschehen war. Anfangs war ich tatsächlich gekränkt gewesen. Ich hatte mir sogar Gedanken gemacht, wie ich das wieder in Ordnung bringen konnte, was mein schlechtes Gewissen nur noch weiter befeuert hatte. Doch je mehr ich darüber nachgedacht hatte, kristallisierte sich eine weitere Seite heraus, die immer mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hatte. Wut gemischt mit Unverständnis.

Wie sollte ich nach all dem, was geschehen war, wieder dieselbe Person werden, die total ahnungslos durch die Welt gelaufen war und deren Probleme so banal gewesen waren, dass ich nur noch darüber schmunzeln konnte? Wie hatten es sich meine Großeltern vorgestellt? Dass wir nach allem, was geschehen war, wieder nach Deutschland zurückkehren würden und alles wieder zur Normalität zurückkehren würde? Was war denn überhaupt die Definition von Normalität?

Generell kam ich mir vor wie ein unwissendes Neugeborenes, das viel zu früh aus dem geborgenen Nest der Mutter in die weite, viel zu gefährliche Welt entlassen worden war. Ohne jegliche Vorahnung. Immer noch hatte ich keinen blassen Schimmer, was hier eigentlich wirklich los war. Was in den letzten Monaten geschehen war. Der gesamte Zusammenhang ließ sich mir einfach mit dem Wissen, das ich momentan hatte, immer noch nicht gänzlich erschließen.

Ein Blick in den Spiegel bestätigte nur, wie aufgewühlt und orientierungslos ich war. Meine langen Haare hatte ich, mehr oder weniger gut, in einen Knoten eingedreht, der alles andere als ordentlich war. Die Ringe unter meinen Augen hatten übergroße Dimensionen angenommen. Und der knochige Körper, der in den viel zu großen Sachen verschwand, die mir einst perfekt gepasst hatten, zeigte nurmehr, wie verloren ich war. Das musste sich schleunigst ändern. In mir formte sich ein Versprechen, das ich mir selbst zu erfüllen schwor.

Ich hatte genug Zeit in Unwissenheit verbracht, die mich wie pure Finsternis in den bodenlosen Abgrund gezogen hatte. Dieses Mal würde ich alles hinterfragen, nichts mehr als gegeben hinnehmen. Jede Entscheidung würde aus tiefstem Herzen stammen und nicht, weil mir jemand das Gefühl gab, dass dies das einzig Richtige war. Selbst wenn dies bedeutete, dass ich die Menschen, die mit dieser neuen Version von Cassie nicht klar kamen, gehen lassen musste.

Mein Spiegelbild nickte mir entschlossen zu, obwohl der Kloß in meinem Hals es mir schwer machte. Der Gedanke daran, meine Großeltern oder die Freunde verlieren zu können, die mir in Deutschland alles bedeutet hatten und mich jetzt noch nicht einmal ansehen konnten, fühlte sich grausam an. Doch Opfer mussten nun einmal gebracht werden, selbst wenn es schwer war. Ich straffte meine Schultern und atmete tief durch.

Es ist am besten so.

Bereit zum Aufbruch betrat ich wieder das angrenzende Schlafzimmer. Wie von selbst schweifte mein Blick zum Fenster, dessen Glas vom burgunderfarbenen Stoff nur halb verdeckt war. Vollkommene Dunkelheit begrüßte mich von draußen, was meine Augenbrauen zusammenziehen ließ.

Habe ich wirklich schon wieder bis in die Nacht durchgeschlafen?

Frustriert ließ ich die Luft aus meinen Lungen entweichen. Mehr denn je wünschte ich mir, die Sonne auf meiner Haut zu spüren, deren Wärme mich sicherlich an wundervolle Sommertage aus Kindertagen erinnern würde. Wo ich mich beinahe schwerelos gefühlt hatte und alles möglich erschienen war.

Doch Nostalgie würde mich nicht weiterbringen. Es gab nur den Weg nach vorne. Auch wenn das hieß, dass ich wieder in den Saal zurückkehren musste, wo ich das letzte Mal zig Menschen begegnet war und einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen hatte. Wieder mischten sich Bilder zu meinen Gedanken, die dort nicht hingehörten. Wärme. Flammen. Schreie. Ich musste meinen Kopf schütteln, um diese Bilder zu verdrängen. 

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