Kapitel 4

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Eigenartig. Das war das einzige Wort, das die Situation beschreiben konnte, in der ich mich gerade befand. Während Elise, eine mir nahezu unbekannte Frau, so schön wie eh und je, meine langen Haare zu einem Zopf zusammennahm, blickte ich in den Spiegel zu der Gestalt mit dem eingefallenen Gesicht, die nichts mehr mit der Frau gemein hatte, welche einst als Barkeeperin ihr Kunststudium finanziert hatte. Beim Anblick, der sich mir zeigte, wurde mir mulmig zumute.

Meine Oma hat mit ihrer Feststellung gar nicht so unrecht gehabt .

Ich spürte, dass ich nicht länger die Einzige war, die mich durch den Spiegel betrachtete. Auch Elise wirkte nachdenklich, als sie mich musterte und sagte: "Du hast schönes Haar."

Es war eine Feststellung, die mein Herz ein Stück zusammenziehen ließ. Meine Augen wurden glasig. Ich wagte einen weiteren Blick in den Spiegel und betrachtete das Einzige, das noch annähernd meinem alten Ich entsprach.

"Bist du dir sicher, dass du das tun möchtest?"

Es war Elise' Stimme, die mich wieder in das Hier und Jetzt zurückbrachte. Auch ihr war nicht entgangen, dass ich mit mir selbst ob meiner Entscheidung haderte. Stets hatte ich zu dieser Sorte von Frau gehört, die niemals auf die Idee gekommen wäre, die lange Mähne mit einem Kurzhaarschnitt zu zerstören. Vielmehr waren die langen Wellen, die einige Farbexperimente hatten ertragen müssen, in den einundzwanzig Jahren meines Lebens ein stetes Markenzeichen meiner Selbst gewesen. Doch nun musste ich feststellen, dass dies nicht länger der Fall war. Mit den rotblonden, langen Haaren sah ich der Frau, die mich auf diese grauenvolle Welt gebracht hatte, viel zu ähnlich. Allein bei dem Gedanken, dass meine Eltern immer noch am Leben waren, wurde mir mulmig zumute. Ich wollte nicht länger auch nur ansatzweise der Frau ähneln, die ich mein gesamtes Leben geradezu vergöttert hatte. Zwar war ich immer noch nicht gewillt, derart radikal zu gehen und mich vollkommen von meinem Haar zu verabschieden, doch ein schwarz gefärbter Long Bob mit meiner Naturwelle, den man gerade so noch zu einem Zopf zusammenbinden konnte, würde sich sicherlich als sehr praktisch erweisen. Vor allem für das Training, das ich noch heute wieder ansteuern wollte. Ich straffte die Schultern und nickte mir selbst zu, bevor ich Elise eine Antwort schenkte.

"Ja. Weg damit. Das bin nicht länger ich selbst."

Mit einem Nicken wandte sich Elise wieder dem Zopf zu, den sie in den Händen hielt. Mehrere Male war das scharfe Zufallen der Schere zu hören, bis die rotblonde, lange Mähne wie in Zeitlupe gen Boden fiel. Durch den Spiegel beobachtete ich Elise dabei, wie sie die Haarfarbe, die sie kurz zuvor angemischt hatte, zu sich herüber zog und den Pinsel in die Hand nahm, mit dem die verbleibenden, rotblonden Locken bald einem tiefen Schwarz weich würden.

Der Geruch von Chemie auf meinem Haar brachte mich dazu, in Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen zu schwelgen. Die Friseurbesuche, die ich mir trotz mangelnden Geldes stets gegönnt hatte und einen Teil Luxus in meinem Leben repräsentiert hatten, waren mir damals sehr wichtig gewesen. Heute verspürte ich Erleichterung. Es fühlte sich einfach gut an, wieder etwas für mich selbst zu tun und damit auch wieder ein Stückchen näher an mein eigenes Ich zu kommen, von dem ich selbst noch nicht genau wusste, wie es nach all den Strapazen genau aussah.

"Jetzt bist du dran, Cassie."

Durch den Spiegel blickte ich in Elise' Gesicht. Neugier stand ihr ins Gesicht geschrieben, als ich sie beim Mustern durch den Spiegel erwischte.

"Was war der Grund, warum du bei unserem Gespräch lachen musstest."

Ach ja, das Versprechen, weshalb wir überhaupt hier sind, erinnerte ich mich. Ich musste eine Weile überlegen, bevor ich mir eine passende Antwort zurechtgelegt hatte.

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