Ich blickte zum Meer. Sanft wogte das salzig riechende Wasser ans Ufer und spülte neuen Sand heran. Ein roter Feuerball erstreckte sich über dem weiten Horizont und kündete die baldige Dämmerung an. Der Fels, auf dem ich saß, war, genauso wie der Sand unter meinen Füßen, angenehm warm. Ich schloss die Augen. Gab mich vollends dem Meeresrauschen und dem leichten, warmen Wind hin.
Ein Schatten verdeckte kurz das Licht der Sonne. Das Rascheln von Kleidung ertönte neben mir. Mein Herz begann, schneller zu schlagen.
Ich brauchte nicht aufzublicken. Diesen Mann, der den warmen Stein mit mir teilte, hätte ich selbst blind erkannt. Sein einzigartiger Duft umnebelte meine Sinne. Meine Gedanken schwebten leicht wie eine Feder. Die Lippen formten sich zu einem leichten Lächeln.
Irgendetwas in meinem Hinterkopf sagte mir, dass hier etwas nicht stimmte. Dass er nicht hierher gehörte. Dass wir nicht hierher gehörten. Doch die Wärme, die seine Anwesenheit bei mir auslöste, ließ mich diese Gedanken ignorieren.
"Wie ist das bloß möglich?", entfuhr es meinen Lippen. Die geflüsterten Worte wurden sofort von sanftem Meeresrauschen geschluckt. Es störte mich noch nicht einmal. Ein lauwarmer Wind bescherte mir angenehme Gänsehaut. Meine Seele frohlockte vor Glück.
Perfekt, war das, was ich dachte. Doch eine innere Stimme warnte mich davor, dass das alles nur Fassade war.
"Sind wir wirklich in Sizilien?", fragte ich, mehr an mich selbst gerichtet. Denn die Antwort kannte ich bereits instinktiv.
"Nein, wir träumen. Dieser Strand scheint uns beiden viel zu bedeuten, weshalb wir immer wieder hierher zurückkommen. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, hier aufzuwachen - ohne richtig aufzuwachen."
Lächelnd schaute ich zu ihm. Eine sanfte Woge an Bildern flutete meinen Geist. Gabe und ich hatten an eben diesem Teil des Strandes gestanden, als er mir eine perfekt geformte Muschel in Schneckenform geschenkt hatte. Ich konnte mich im besten Willen nicht daran erinnern, warum er mir die Muschel überreicht hatte. Nur, dass er es getan hatte. Die Ereignisse, die außerhalb unserer kleinen Welt geschehen waren, hatten vollkommen mein Gedächtnis verlassen.
"Werden wir uns jetzt jede Nacht in unseren Träumen begegnen?", hörte ich mich fragen.
"Nur, wenn wir das beide möchten. In den Monaten deiner Bewusstlosigkeit ist es nicht einmal vorgekommen. Obwohl ich dich so oft gesucht habe."
"Oh..."
Ich runzelte die Stirn. Seine Worte stellten einen Teil des Puzzles dar, welches ich vergessen, vielleicht sogar verdrängen wollte. Doch Gabe dachte erst gar nicht daran.
"Ich habe Lian doch gesagt, dass du noch nicht so weit bist. Manchmal ist er so sturköpfig und arrogant..."
Ich runzelte meine Stirn.
"Wovon sprichst du?"
Doch seine Antwort benötigte ich nicht. Die Bilder kamen regelrecht auf mich zugeflogen. Dorians Fähigkeiten, die ich an meinem eigenen Leib spüren durfte. Lians Lektion in dem extra für mich designten Trainingsraum. Und meine neu entdeckte, erweiterte Fähigkeit, Energie zu spüren.
Ich blickte auf meinen Arm hinab, auf dem sich langsam das Tattoo, bestehend aus sieben Kreisen, offenbarte. Meine langen Haare wurden kürzer. Die Kurven wichen einem Körper, an den ich mich noch nicht vollends gewöhnt hatte. Von der alten, glücklichen Cassie war nichts mehr übrig.
Sofort stieg in mir der Wunsch auf, die heilsame Unwissenheit zurückzuholen. Doch ich wusste, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen war. Meine Seele frohlockte nicht mehr. Mein Herz war so schwer wie ein Felsen geworden. Vorbei war die Illusion der Perfektion und der Leichtigkeit.
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Phönixchroniken - Erleuchten
Paranormal--- Band 3 der Phönixchroniken --- Das, wovor Cassie sich gefürchtet, zeitgleich jedoch herbeigesehnt hat, ist eingetreten. Michail ist durch ihre eigene Hand gestorben. Obwohl das ein guter Grund ist, sich zu freuen und alles hinter sich zu lassen...