Kapitel 6

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Drei Stunden, zwölf Minuten und achtundzwanzig Sekunden. So viel Zeit war vergangen, nachdem Gabe sich wieder auf den Stuhl neben mir gesetzt hatte und der eigentliche Beginn der Lagebesprechung eingeleitet worden war. Zu Beginn hatte ich versucht, dem Wortaustausch aufmerksam zu folgen, doch mit jeder Minute stellte sich dies als ein unmögliches Unterfangen heraus. Zum Einen rumorte mein Magen, da ich heute nicht sonderlich viel zu mir genommen hatte. Zum Anderen war es mir unglaublich schwer gefallen, thematisch zu folgen, da die anderen seit zwei Monate über nichts anderes redeten und mein Kopf von den ganzen neu erhaltenen Informationen schmerzte. Einfach gesagt hatten sich diese drei Stunden gezogen wie zähes Kaugummi. Nicht nur ein Mal war mein Blick zur Wanduhr mir gegenüber gewandert und der Wunsch in mir aufgestiegen, schnurstracks den Raum zu verlassen. Doch wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatte das Gespräch nur mäßig zu meinem allgemeinen Unwohlsein beigetragen. Immer wieder war ich kaum merklich auf meinem Stuhl herumgerutscht, wenn die Anziehungskraft zwischen Gabe und mir meine Gefühlswelt dominierte und mich ihm näher bringen wollte. Doch selbst dieses Gefühl hatte nicht die Tatsache überschattet, meine lebendigen Eltern vor mir sitzen zu sehen und vor Augen gerufen zu bekommen, dass mein vorheriges Leben eine einzige Lüge gewesen war.

Ihre Stimmen zu hören brachte das Unwohlsein in mir auf ein vollkommen neues Level. Eine Mischung aus Wut und Traurigkeit ummantelte meine Sinne, wenn ich nur die engelsgleiche, samtene Stimme meiner Mutter oder den italienisch behafteten Tenor meines Vaters vernahm. Zuvor, als ich sie nur mit meinen Augen wahrgenommen hatte, war es mir möglich gewesen, sie zu ignorieren. Ein Blick in eine andere Richtung hatte sie bereits wieder aus meinem Gedächtnis gedrängt oder wenigstens die Möglichkeit dazu dargeboten. Doch mit der Stimme kam eine neue Ebene der Wahrnehmung hinzu, die meinen Schädel zum Dröhnen brachte und das Leugnen nicht mehr so einfach machte.

Nicht nur ein Mal war in mir die Frage aufgekeimt, ob es für sie genauso eigenartig war, mich - ihre leibliche Tochter - vor ihnen sitzen zu sehen, während sie kein Stückchen gealtert waren. Mit dieser Frage hatten sich weitere Fragen dazugesellt und meinen Kopf beinahe zum Explodieren gebracht.

War es möglich, dass sie mich die ganze Zeit über aus der Ferne beobachtet hatten? Wie hatten sie es geschafft, meine Großeltern innerhalb solch kurzer Zeit zu beschwichtigen? Würde auch ich irgendwann einmal in der Lage sein, ihnen zu verzeihen? Ich wurde das Gefühl nicht los, dass keine Zeit der Welt jemals dafür ausreichen würde, um mir alle noch ungeklärten Fragen, die in meinem Gehirn umher geisterten, zu beantworten.

Elise' Rat, mich mit ihnen auszusprechen und Antworten auf zumindest einen Teil der Fragen zu erhalten, kam mir wieder in den Sinn. Der vernünftige Teil von mir stimmte dem Vorschlag vollends zu. Doch der andere, stolze Teil wollte dies nicht zu lassen. Jedenfalls nicht heute.

Das Quietschen von Stühlen auf dem Boden brachte meine Aufmerksamkeit in das Hier und Jetzt zurück. Der Großteil in dem Raum hatte sich bereits von ihren Stühlen erhoben und war bereits auf dem Weg, den Raum zu verlassen. Auch ich schob den Stuhl zurück und atmete erleichtert aus. Mit geschlossenen Augen massierte ich meine pochenden Schläfen.

Erst der Ausruf meines Spitznamens brachte mich dazu, wieder meine Augen zu öffnen und geradewegs zu der Quelle der Unruhestifterin zu sehen.

"Willst du uns in den Trainingsraum begleiten?", fragte Ilvy mit einem einnehmenden Lächeln. Ihre Augen strahlten und ich konnte ihr ansehen, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ich zusagte.

Das Wort Trainingsraum brachte mich kaum merklich zum Erschaudern. Bilder von dem Trainingsraum geradewegs aus der Hölle stiegen vor meinem inneren Auge auf. Umherspritzendes Blut. Verzerrte Laute des Schmerzes und der Angst. Böse Blicke und stetiger Konkurrenzkampf.

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