Kapitel 9

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Wider Erwarten befand sich der Raum, in den Lian mich zu führen gedachte, direkt neben dem Trainingsraum. Im Gegensatz zu dem öffentlich zugänglichen Trainingsraum war diese Tür verschlossen, was unschwer an der danebenliegenden Codetastatur erkennbar war, die den Zutritt für Unbefugte verhinderte. Flink wie eh und je tippte Lian die dazugehörige Zahlenkombination ein. Ich hörte, wie mehrere Riegel in der Tür zurückfuhren und schließlich in einem Klicken mündeten. Lian drückte den Henkel der Holztür hinunter und entblößte einen Raum, der meinen Mund offenstehen ließ.

Das Holz an der Tür war reine Fassade gewesen. In Wirklichkeit bestand die Tür aus massivem Metall und wurde auf der inneren Seite mit einem dicken, schwarzen Stoff versiegelt. Als Lian den Raum betrat, wurde der ebenfalls gänzlich mit schwarzem Spezialstoff verkleidete Raum in weißes Licht getaucht. Dieses trug jedoch wenig dazu bei, dass ich mich wohl fühlte. Viel eher fröstelte es mich.

Langsam folgte ich Lian. Kaum hatte ich den Raum betreten, hörte ich, wie die Tür mit einem sanften Klicken hinter mir ins Schloss fiel. Stille dominierte den großen Raum. Einzig das Surren der Belüftungsanlage war zu hören. Ich musste nicht lange überlegen, warum dieser Raum bei mir ein schlechtes Gefühl hervorrief. Schließlich ähnelte er stark dem Trainingsraum, in dem ich gegen Ende meines Aufenthaltes in Japan mit Akuma hatte üben dürfen.

Anbahnende Kopfschmerzen drohten meinen Fokus auf das Wesentliche zu stören. Obwohl viele Gedanken in meinem Kopf umherschwirrten, schaffte es nur einer, aus der Menge hervorzustechen: Vor meinem Erscheinen in diesem Gebäude hatte es diesen Raum in dieser Art sicherlich nicht gegeben. Sie hatten von Vornherein erwartet, dass ich aus dem Schlaf erwachen und sie unterstützen würde.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. War ich wirklich derart leicht zu durchschauen? Oder vielleicht auch einfach schnell manipulierbar? Ich spürte Hitze in mir aufsteigen, die ich erst mit einigen tiefen Atemzügen wieder im Griff hatte.

Für irgendwelche Wutausbrüche war jetzt keine Zeit. Ich schritt auf Lian zu, meine Augen stets auf ihn gerichtet.

"Würdest du mich bitte nicht derart auf die Folter spannen und mir sagen, was du eben gemeint hast?"

Auf seinem sonst eher emotionslosen Gesicht bildete sich ein Lächeln, was mehr war, als ich erwartet hatte.

"Entschuldige."

Er fuhr sich mit der Hand durch das kurz geschnittene Haar. Das erste Mal bedachte ich Lian eines musternden Blickes. Seine Augen zierten kaum merkliche Schatten. Die Wangenrasur war nicht sonderlich akkurat gewesen und entsprach nicht dem, was ich sonst von ihm gewohnt war: Perfektion. Dieser Umstand machte mir Sorgen. Wenn Lian derart unter Stress stand, stimmte etwas gewaltig nicht.

"Du darfst nicht vergessen, dass wir nicht wissen, wem wir vertrauen können", ergänzte Lian.

Er bedachte mich kurz eines intensiven Blickes, schaute dann jedoch auf einen Punkt hinter mir.

"Dass sich Dorians Fähigkeit der seelischen Fremd-Destruktion in der Öffentlichkeit offenbart hat, ist schon schlimm genug."

Seelische Fremd-Destruktion.

Ich schmunzelte. Lian fiel aber auch zu allem der passende, oberschlau klingende Begriff ein.

Die Geschichte, welcher Auslöser bei Dorian dazu geführt hatte, seine Fähigkeiten zu offenbaren, interessierte mich ungemein. Doch eine weitere, viel wichtigere Sache stand noch unausgesprochen in dem Raum, die mir etwas Bauchschmerzen bereitete.

"Du scheinst sehr davon überzeugt zu sein, dass es unter uns einen Maulwurf gibt."

Lians Blick landete wieder auf mir. Mit einem Seufzen erwiderte er: "Ich bin einfach gerne auf alle Eventualitäten vorbereitet."

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