Es vergingen drei weitere Tage, die ich im schützenden Haus der Familie Rosso verbrachte. Ich freundete mich sogar mit Emilia an, wenn man das so nennen durfte.
Noch immer plagte mich die Angst aufzufliegen, doch mit dem sterbenskranken Antonio Rosso unter einem Dach, achtete Dominic kaum auf mich. Bis sein letztes Stündlein geschlagen hatte, sollte die Aussenwelt nichts von seinem Zustand erfahren. Es würde Dominic's Position nur noch mehr schwächen; mit seinen achtzehn Jahren musste er sich ohnehin schon vor viel zu vielen Leuten beweisen.
Am dritten Morgen sass ich also mit Emilia am Frühstückstisch.
«Dein Kleidungsstil ist recht gewagt, findest du nicht?», meinte ich und schaute an mir herunter. Obwohl sie sich in den vergangenen Tagen bemühte, waren mir ihre Shirts immer etwas knapp und das, obwohl sie doch einige Zentimeter grösser war als ich.
«Du kannst auch nackt herumlaufen, wenn's dir nicht passt, aber dafür bist du zu prüde», meinte Emilia nur und biss genüsslich in ihr Honigbrot. «Wie kannst du nur kein Frühstück essen?», brachte sie mit vollem Mund hervor. Angewidert schüttelte ich den Kopf und lächelte leicht. Trotz ihres gefährlichen Umfeldes lebte Emilia ein relativ gewöhnliches und unbeschwertes Leben. Wie ich sie dafür beneidete.
Ich hob zu einer Erklärung an, als Dominic den Raum betrat. Seit unserem nächtlichen Gespräch in seinem Büro hatten wir kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Man sah ihn allgemein nur noch sehr selten. Jetzt aber schaute er mich auffordernd an.
«Wir fliegen nach Shanghai. Jetzt», meinte er. Zur Antwort starrte ich ihn mit grossen Augen an.
«Ich werde nicht mitkommen um zuzusehen wie du Chen Young umbringst!» Einen Moment lang musterte er mich nachdenklich. Dann entgegnete er so ruhig, dass es einen erschaudern liess: «Mein Gefühl sagt mir, dass du eine Verbindung zu diesem Mann hast. Er weiss wer du bist. Ist es nicht so?»
Energisch schüttelte ich den Kopf. Ich hatte Chen Young tatsächlich nie persönlich getroffen oder gar mit ihm gesprochen. Unrecht hatte Dominic allerdings auch nicht.
«Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.», meinte ich scheinheilig und völlig unglaubwürdig.«Wir werden's ja noch früh genug erfahren», meinte Dominic unbeeindruckt und wandte sich seiner Schwester zu: «Wir sind in vier Tagen zurück. Fa' attenzione a lui.»
Sie nickte ernst.«Komm jetzt!», sagte er dann wieder an mich gerichtet. Widerwillig stand ich auf. «Ich muss noch meine Jacke-«
Genervt schnaubte Dominic auf: «Die brauchst du nicht. Wir gehen!»
—
Natürlich besass die Familie Rosso einen eigenen Privatjet. Wie typisch! Zwei Männer die sich als Gabriel und Jax vorstellten warteten bereits mit schwerem Gepäck vor dem Flugzeug. Dominic hatte seine übliche ernste Miene aufgesetzt und wartete geduldig bis ich eingestiegen war, bevor auch er das Flugzeug betrat.Während des Fluges referierte er einige Male mit einem der Männer, Gabriel. Der andere, mit blau gefärbtem Haar, hielt sich stumm im Hintergrund und verfolgte, wie ich, das Wortgefecht. Auch ich wechselte nur knappe Sätze mit ihnen und konzentrierte mich ansonsten voll und ganz auf das kleine Fenster.
Ich machte mir grosse Sorgen. Sollte Chen Young ein falsches Wort sagen oder mich gar erkennen, dann würde dieser Tag nicht nur sein, sondern auch mein Todestag sein.
Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen, dass meine grösste Sorge nicht mehr Enrico Romanow, dafür aber Dominic Rosso war? Ich hatte versagt. Tyler wäre enttäuscht.
Nach einer Weile wurden meine Lieder immer schwerer, bis ich schliesslich nachgab und mich die Dunkelheit umhüllte. Zumindest würde ich ausgeruht mein Leben nach dem Tod betreten...
-Dominic-
Ich war so in mein Gespräch mit Gabriel vertieft, dass ich anfangs gar nicht merkte, als Lyn eingeschlafen war. Erst als sie begann Wörter vor sich hin zu brummen blickte ich zu ihr. «Was ist passiert?», nuschelte sie. Ich liess meinen Gesprächspartner verstummen und setzte mich neben Lyn. Weder Gabriel noch der blauhaarige Jax machten einen dummen Kommentar. Dafür respektierten sie mich viel zu sehr.
Aufmerksam betrachtete ich sie. Von was träumte sie wohl? «Ist ja gut», sagte sie dann. Nachdenklich zog ich meine Brauen zusammen als Lyn tief seufzte. Nicht das typische theatralische seufzen, dass sie so gut schauspielert, nein. Es war ein echter, trauriger, sogar verzweifelter Seufzer.
«Tyler...bitte nicht.» sie schluchzte leise auf. Würde sie etwa im Schlaf anfangen zu weinen? Und wer war Tyler? «Lass mich nicht alleine. Ich kann das nicht.» Jetzt rann ihr tatsächlich eine einzige Träne die Wange hinunter. Vorsichtig hob ich meine Hand um ihr sachte die Träne weg zu wischen, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und stand auf. «Such nach einem Tyler Anderson», wandte ich mich an Jax. Dieser nickte nur und verschwand dann im hinteren Teil des Jets.
Mir war bewusst, dass Jax keinen Tyler Anderson finden würde, immerhin starb Lyn Anderson ja auch schon 1978 an Leukämie, was bedeutete, dass die Lyn Anderson neben mir eine Identitätsdiebin war. Trotzdem musste das niemand sonst wissen. Zumindest noch nicht.
«Wo waren wir?», fragte ich seufzend und widmete mich dann wieder Gabriel zu. Dieser erklärte mir genau, wie der Überfall auf Chen ablaufen würde, trotzdem schweiften meine Gedanken immer wieder zu Lyn.
Ich dachte an ihre geheimnisvollen grauen Augen und das lange, seidige Haar, welches ihr immer wieder ins Gesicht fiel. Bei dem Gedanken an ihr Spielchen mit dem Post-it musste ich mir ein Lächeln verkneifen. Sie forderte mich heraus, wusste aber stehts, die Grenzen nicht zu überschreiten. Sie war nicht einer dieser Leute, die an Gut und Böse glaubte. Sie war schlau genug zu erkennen, dass die Welt nicht so funktionierte. Sie war diese Art Mädchen, die es viel zu selten auf dieser Welt gab, denn es gab es nur ein einziges Mal. Und genau sie mochte ich unheimlich. Innerlich verfluchte ich mich, sie mitgenommen zu haben. Ich würde Lyn meines Rufes wegen töten müssen, wenn ich erstmal wusste, womit sie gelogen hatte. Da kam man nicht drum rum. Das ist der Preis, respektiert zu werden.
In weniger als 24 Stunden würde ich Chen Young töten, vorher aber, würde dieser mir verraten, wer Lyn Anderson wirklich war, das sagte mir zumindest mein Gefühl- und auf das war ja bekannterweise immer verlass. Doch zum ersten Mal in meinem Leben hoffte ich, dass mich mein siebter Sinn täuschte. Ich wollte bei Lyn Anderson nicht recht behalten.
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Blurred Lines
Teen FictionEin Jahr ist es her, seit Ashlyn mit Tyler geflüchtet war. Sechs Monate suchte sie bereits nach der Rosso Familie. Und jetzt hatte sie ihn endlich gefunden: Dominic Rosso. Der Sohn der mächtigsten Mafia Europas. Nur er konnte sie vor ihren Verfolge...