𝔸𝕔𝕙𝕥. "𝔸𝕦𝕤 𝕃𝕚𝕖𝕓𝕖"

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«Nic will dich sehen.» Erschrocken fuhr ich hoch. Vor meinem Bett stand Emilia. Mit ihren perfekt lackierten Fingern hielt sie meine Jacke und musterte diese von allen Seiten.

«Fass sie nicht an!», fauchte ich wütend und entriss ihr harsch das abgewetzte Kleidungsstück.

«Wow, du bist echt kein Morgenmensch», sagte sie mehr zu sich selbst und drehte sich dann um. Mit wenigen Schritten war sie an der Tür. Bevor sie diese schloss sagte sie mit zuckersüsser Stimme: «Ich hab dir frische Kleidung aufs Bett gelegt.»

Als ich das kleine Büro betrat sass Dominic bereits auf dem Stuhl hinter seinem Arbeitstisch. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so unwohl gefühlt einen Raum zu betreten. Das rosa Crop-top bedeckte nur knapp meinen Busen und der dazu kombinierte karierte Rock sah einfach nur lächerlich aus. Ich war angezogen wie einer dieser Modepüppchen, die Dominic so gerne an seiner Seite hatte, nur eben nicht ganz so Model-haft.

Als er mich erblickte, legte sich Dominic's Stirn in Falten: «Diese Kleidung ist respektlos mir und meiner Familie gegenüber, das weisst du genauso gut wie ich. Wenn du einen Todeswunsch hast, musst du mich dafür nicht provozieren. Ich werde dich auch so umbringen».

Ich wollte Antworten, doch Dominic wusste es bereits. «Das ist Emilia's Kleidung», sagte er angespannt und innert einer schnellen Sekunde hatte Dominic seine Waffe gezückt und diese auf meinen Kopf gerichtet. Überrascht hielt ich die Luft an. Was sollte das denn jetzt? «Lass sie aus dem ganzen raus», stiess er mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

«Na hör Mal! Immerhin hat sie mir etwas zum Anziehen gebracht!», sagte ich vorwurfsvoll. Natürlich war mir klar, dass Emilia alles andere als gastfreundlich sein wollte. Sie wusste genau, dass diese leichte Bekleidung ein Konflikt auslösen würde. Verständlich. Man kommt ja nicht bauchfrei zu seinem "Boss" angelaufen.

Dominic senkte seinen Arm und mit ihm die Waffe. Er kniff seine Augen zusammen. Mit ernstem, professionellem Ton meinte er dann: «Mein Verhalten war unangebracht. Dass du so herumlaufen musst hat nichts mit dir zu tun. Emilia und ich hatten einen Interessenskonflikt. Ich werde persönlich dafür sorgen dass solch eine Situation nicht wieder vorkommt». Dann erhob er sich und verliess sein Büro ohne eine weitere Erklärung.

Verdutzt stand ich da und wartete. Dabei fielen mir die unzähligen Fotografien auf, die über den ganzen Arbeitstisch verteilt waren: Ortschaften, Familienwappen, Portraits, Leichen.

Auf die Fotos fokussiert, setzte ich mich langsam auf den Stuhl gegenüber Dominic's. Die meisten Gesichter kannte ich, auch die Wappen waren mir vertraut, doch das Bild zweier Leichen auf einem blutverschmierten Küchenboden hatte ich noch nie gesehen. Ich wünschte, es wäre dabei geblieben.

Ich hörte, wie sich Schritte näherten und die Tür anschliessend zugezogen wurde.

«Sag mir, wen du von hier kennst. Sei ehrlich und vergiss niemanden. Ich kann sagen wenn du lügst», mit diesen Worten liess sich auch Dominic in seinen Bürostuhl nieder. Seine Worte liessen mich erschaudern. Ich nickte.

Ich öffnete meinen Mund um anzusetzen, da warf mir Dominic ein weisses Hemd zu. Reflexartig fing ich es und streifte mir ohne weitere Gedanken das Top vom Körper.

Ich spürte Dominic's Blick auf mir, liess es mir dennoch nicht anmerken und knöpfte das viel zu grosse Hemd zu. Es musste Dominic gehören. Noch während ich den zweitletzten Knopf in das kleine Loch quetschte, wiederholte Dominic seine Aufforderung.

«Also, das ist das Wappen der Young Familie», ich tippte auf ein rotes Wappen mit einem Chinesischen Drachen, dann zeigte ich auf einen Mann mit grauem Hut. «Unverkennbar Chen Young. Er trägt immer diesen Hut. Es soll seine asiatischen Gesichtszüge verdecken und ihn in Italien unscheinbarer machen. Dummer Schachzug»

Dominic lachte trocken. «Ironischerweise tust du dasselbe mit deiner Jacke».

Ich ging nicht auf seine Bemerkung ein und fuhr fort: «Elizabeth und Adam Stalin. Auftragskiller, verheiratet. Sie sind bekannt für ihre Diskretion. Wieso hast du von denen nur ein Foto von hinten? Kennst du ihre Gesichter nicht?»

«Nein. Aber ich habe noch eins», Dominic lächelte boshaft. «Die Stalins sind nur schwer zu fotografieren aber da sind sie gut zu sehen». Er schob mir ein Bild entgegen.

Bei dem Anblick des Bildes wurde mir schlecht. Es war das Bild der beiden Leichen. Die Gesichter waren nicht mehr zu erkennen und, genauso wie die Körper, völlig verstümmelt und deformiert. Man erkannte kaum, das es Menschen waren.

Ich schluckte schwer bevor ich Dominic wieder anschaute. Jetzt war mir auch klar, wieso er sich über die Stalins nicht weiter aufgeregt hatte. Er wusste, dass sie bereits tot waren. Und ihm war wohl genauso klar wie mir, wie sehr sie vor deren Tod hatten leiden müssen.

«Weist du, wer sie getötet hatte?», fragte ich vorsichtig. Dominic schüttelte den Kopf. «Nein, noch nicht. Ihr tot war allerdings einige Zeit das Hauptgespräch unter all den grösseren Verbrechern und Geschäftsleuten. Viele wollten den Mörder der Stalins tot sehen. Anscheinend waren sie ziemlich beliebt.»

«Verständlich dass sich der Mörder bedeckt hält», sagte ich und war von Dominic's Unwissen ziemlich erleichtert. Ein Vorteil für mich.

«Kennst du das Pub?», fragend reichte Dominic mir nun ein weiteres Bild. Ich verneinte.

«Hier hatten sich die Stalins mit Chen Young getroffen. Hier hatte er ihnen den Auftrag erteilt meine Mutter zu töten und hier», er tippte auf das Gebäude, «kommt er heute noch regelmässig hin». Dominic war voll in seinem Element. Er genoss es, seine Rache zu planen und ich verabscheute seine Selbstgefälligkeit.

Und deshalb war ich es jetzt, die ihm eine Frage stellte, auf die ich bereits die Antwort hatte: «Weisst du eigentlich, weshalb Chen Young deine Mutter umgebracht hatte?»

«Um meinem Vater eins auszuwischen, er ist ein mächtiger Mann. Was soll die Frage?» Ich wusste selbst nicht, weshalb ich es ihm sagte. Vermutlich wollte ich ihm bloss eins auswischen. Mein Verhalten war unseriös und leichtsinnig, meine Gefühle hatten die Kontrolle übernommen. Tyler hätte mich für dieses Handeln missbilligend angesehen, doch Tyler war nun mal nicht da.

«Aus Liebe, Dominic. Chen Young und Antonio hatten eine Beziehung», als ich das sagte lachte Dominic spöttisch, ich aber, verzog keine Miene. Es war mir ernst.

«Mein Vater steht nicht auf Männer!», sagte Dominic abwehrend. Dabei klang er nicht mehr wie ein zukünftiger Mafiaboss, sondern eher wie ein unsicherer, verzweifelter kleiner Junge, dessen Seifenblasenwelt soeben geplatzt war. «Er hatte meine Mutter geliebt!»

Ich nickte zustimmend und sagte etwas zu enthusiastisch: «Genau! Er hat sich für sie entschieden und nicht für Chen Young. Deshalb hatte sich dieser an ihr gerächt, in der Hoffnung, dein Vater würde ihn zurücknehmen wenn sie nicht mehr da wäre.»

Dominic fand das Gespräch alles andere als lustig. «Das ist verrückt! Du lügst! Hör auf mit meinem Hirn zu spielen!», er schrie mich an. Ich blieb unbewegt und betrachtete ihn ruhig. Mir war bewusst, dass ihn dieser Fakt wütend machen würde, aber dass es ihn so überwältigte und dermassen aus der Fassung bringen würde, mit dem hatte ich wirklich nicht gerechnet.

«Was glaubst du, weshalb dein Vater, einer der Mächtigsten Männer Weltweit, den Mörder seiner Frau nach einer vier Jahren langer Suche noch immer nicht gefunden hatte?», redete ich unbarmherzig weiter, «Weil er die Person nicht finden will. Er kann ihn nicht töten, weil er noch immer Gefühle für ihn hat. Antonio liebt den Mann, der deine Mutter getötet hat».

«Raus!», schrie Dominic und schlug dabei aggressiv auf den Tisch, doch ich rührte mich nicht. Zu sehr genoss ich es, ihn leiden zu sehen. «Verschwinde hab ich gesagt!», wieder hatte er seine Pistole gezückt und sie mit einer simplen Bewegung entsichert.

Ich wusste, dass er nach diesem Gespräch mit seinem Vater reden würde. Ich wusste, dass dieser es ihm beichten würde und Dominic völlig überrumpelt davonstürmen würde. Ich hatte ein unnötiges Chaos angerichtet und damit war ich mehr als nur zufrieden.

Ich erhob mich und schaute ihn mit ausdrucksloser Miene an. Seine Augen waren Wuterfüllt, das Gesicht voller Zorn. «Ich weiss Dominic, die Wahrheit schmerzt. Stell dich ihr. Du bist stark genug», mit diesen Worten liess ich ihn zurück. Ich meinte alles, dass ich ihm gesagt hatte.

Blurred LinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt