𝔽ü𝕟𝕗. "𝕋𝕪𝕝𝕖𝕣"

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«Tyler!», ich schlinge meine Arme um ihn und sein vertrauter Duft umhüllt mich. »Ich dachte dir wäre was passiert», flüstere ich ihm ins Ohr und für einen kurzen Moment vergesse ich alles um uns herum. «Ashlyn-», seine Stimme bricht, er weint. Sofort löse ich mich von ihm. «Was hast du? Was ist los?» Er schüttelt nur seinen Kopf, sackt zu Boden und bewegt lautlos seinen Mund. Tränen rinnen seinen rosigen Wangen hinunter. Er sieht so verzweifelt aus. Wovor hat er solche Angst? Ich setzte mich neben ihn auf den dreckigen Erdboden. «Tyler», versuche ich es erneut und schaue ihm dabei in seine grauen Augen, »Was ist passiert?» Er schluchzt auf, klammert sich mit seinen Händen an meine Arme, weint in meinen Hals und ich stehe da. Ich stehe einfach nur da und streichle ihm sanft über den Rücken. «Ist gut», probiere ich ihn zu beruhigen, «Es wird alles okay.» Eine Floskel, die kein Mensch auch nur ansatzweise ernst meint, wenn er sie ausspricht. Nach einer Weile, welche sich wie eine Ewigkeit anfühlt, löst er sich wieder von mir. Die Tränen sind versiegelt, doch die Verzweiflung in seinen Augen ist noch immer da. Er schluchzt und schreit und als er die Worte endlich ausspricht, kann er nicht aufhören, sie zu wiederholen: «Sie sind tot Ashlyn. Sie sind tot! Sie sind tot...»  Noch nie hatte ich ihn so verzweifelt, so gebrochen gesehen. «Wer? Wer ist tot?», frage ich, als ob ich es nicht schon längst wüsste. Ich wusste es, seit er auf mich zu gerannt kam. Und trotzdem treffen mich seine Worte wie eine Faust ins Gesicht: «Mom und Dad. Sie wurden ermordet.»

Von einem aggressiven Hämmern an der Tür wurde ich geweckt. Ich lag in einem Bett, im Apartment von Antonio Rosso, nicht im kleinen Wäldchen hinter meinem Elternhaus. Erleichtert atmete ich auf. Ich war in Sicherheit.

Immer fordernder klopfte es von der anderen Seite an die Tür. Waren es Enrico's Leute? Hatten sie mich etwa doch gefunden? «Lyn! Merda! Wie lange brauchst du eigentlich? Wenn du sie nicht sofort öffnest dann schlag ich diese verdammte Tür ein!», Dominic. In bester Laune wie mir schien. Ich seufzte auf und kroch müde aus dem Bett.

Als ich die Tür aufschwang stand da ein gutaussehender junger Mann in dunkelblauem Anzug vor mir. Die Haare perfekt gestylt, das markante Gesicht ohne jegliche Bartstoppel.

Auch er musterte mich von oben bis unten. «Soll das ein Witz sein?», fragte er dann aufgebracht. Verschlafen schaute ich an mir runter: schwarze Shorts, ein graues Top, die Haare zu einem Dutt hochgesteckt und barfuss. Am Abend zuvor hatte ich mir die Zehennägel rot lackiert. War das etwa sein Problem? Bestimmt nicht. Fragend legte ich meinen Kopf schief.

«Es ist zehn nach elf!», fuhr er mich wütend an. «Schrei mich nicht so an!», antwortete ich im selben Ton. Voller Zorn schlug er an die Tür. Diese prellte krachend an die Wand. Erschrocken zuckte ich zusammen. «Dir mag es ja egal sein, aber für mich ist das verdammt wichtig!», noch immer schrie er.

«Ich weiss nicht was du willst! Ich hab keine Ahnung wieso du in Schale geworfen vor mir stehst und mich anschreist als sei ich der aller grösste Idiot!», so wie ich mit meinen Händen umher fuchtelte musste ich wahrscheinlich genau so aussehen; wie der aller grösste Idiot.

Trotzdem brachte es Dominic zur Vernunft und er verstummte. Unaufgefordert betrat er die Wohnung und setzte sich auf einen Sessel im Wohnzimmer. Ungläubig starrte ich ihn an. «Was?», gab er schnippisch zurück und widmete sich dann seinem Klapphandy zu. Mal ernsthaft, wer benutze denn heutzutage noch so ein Ding?

Ich beobachtete, wie er eine Nummer wählte und das Handy an sein Ohr presste. «Ciao Dante, hör zu, wir werden zwanzig Minuten verspä-«, ungläubig starrte er auf die zwei Scheine, die noch immer auf dem Tischchen lagen. «Verdammt Lyn wieso hast du dir kein Kleid gekauft! Was hast du gestern überhaupt gemacht?», noch immer hielt er sein Handy in der Hand. «Hat dir Emilia nicht gesagt, dass du dir damit eins kaufen sollst? Porca vacca! Hat sie dir denn überhaupt nichts erzählt?» Sein Wortschatz an Schimpfwörtern schien grösser zu sein als sein Alltäglicher. 

«Sie hat's nicht so gut aufgenommen, dass ich ihr das Armband gestohlen habe», sagte ich schulterzuckend. Leise fluchend wandte sich Dominic wieder seinem Gesprächspartner zu: «Vergiss es einfach. Wir werden nächste Woche kommen!» Er wartete nicht auf eine Antwort und hing ohne sich zu verabschieden auf.

Verzweifelt atmete Dominic aus und vergrub sein makelloses Gesicht in seine Hände. Wie er so da sass erinnerte er mich gewaltig an Tyler. Ein halbes Jahr lang waren wir gemeinsam auf der Flucht. Ich bereute, dass wir uns aufgeteilt hatten. Lieber wäre ich mit ihm gestorben, als alleine ohne ihn zu leben. Natürlich glaubte ich, dass er noch lebte, das musste er einfach.

«Dominic», sagte ich zögernd und lief auf ihn zu, «Wieso war dieser heutige Anlass so wichtig?» Als er seinen Kopf hob und mich ansah funkelte Wut und Trauer in seinen Augen. «Dante hat eine Liste von den 50 Personen, die meine Mutter hätten töten können. Die Leute, die an jenem Abend mit ihr Kontakt aufgenommen hatten.»

War er denn wirklich so naiv? «Aber das kannst du nicht wissen. Du weisst nicht, ob er die Wahrheit sagt», erwiderte ich vorsichtig und legte ihm eine Hand auf seine Schulter. Er starrte mich kühl an, sein Gesichtsausdruck war leer, beinahe tot. «Genauso wenig weiss ich, ob ich dir vertrauen kann. Ich habe keine andere Wahl.»

Ich drücke ihm sanft die Schulter. Keine Ahnung weshalb ich den plötzlichen Drang verspürte, ihn zu berühren, doch auch er weigerte sich trotz seiner unglaublichen Wut nicht dagegen. «Wir brauchen diesen Mann und dessen Informationen nicht», weiche ich seiner Bemerkung geschickt aus.

Er schaute auf. Sein Blick erinnerte mich an den eines Hundewelpen; unschuldig und gutgläubig, wie grotesk. «Was meinst du?», fragte er vorsichtig und unweigerlich bildet sich ein Grinsen auf meinem Gesicht. «Ich kenne die Namen. Ich kenne den Aufenthaltsort. Ich weiss alles, Dominic.»

Blurred LinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt