PROLOG

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Ich hielt die Luft an und fokussierte mich mit starrem Blick auf den jungen Hirsch, der etwa zwanzig Fuß von mir entfernt an einer abgelegenen Wasserstelle trank. In fließenden Bewegungen richtete ich mich auf, nahm den Pfeil aus meiner linken Hand und spannte ihn in meinen eigens für mich gebauten Bogen. Doch bevor ich meinen Pfeil abschoss, blickte der Hirsch, erschrocken von einem Geräusch hinter mir, ruckartig auf, doch er blieb stehen. Ich zügelte meine Neugier und den Drang mich umzublicken, setzte den Pfeil erneut an und füllte meine Lungen ein letztes Mal mit Luft. Während ich in die so verletzlich wirkenden, braunen Augen des unschuldigen Hirsches schaute, den Atem anhaltend, ließ ich den todbringenden Pfeil aus dem Bogen gleiten. Er rauschte durch die unberührte Natur und erreichte binnen Bruchteilen eines Moments sein Ziel. Auch aus der Entfernung erkannte ich, dass mein Pfeil mitten im Herz des Hirsches gelandet war. Das Tier senkte seinen Blick und fiel zu Boden. Ich hörte das Aufspritzen des Wassers, ausgelöst durch die Wucht des Vierbeiners, mit welcher er auf das Ufer schlug. „Guter Schuss." Noch immer überwältigt von der Kraft eines im Vergleich so kleinen Pfeiles, vergaß ich in diesen Sekunden die Tatsache, dass ich Gesellschaft bekommen hatte und wurde durch Worte , die die Stille des Waldes erfüllten, zurück in die Wirklichkeit gebracht . „Wie schaffst du es nur immer, jedes verfluchte Mal ins Herz zu treffen?" Er kannte die Antwort genauso wie ich, dennoch erwiderte ich. „Ich weiß es nicht." Mit diesen Worten schaute ich über meine Schulter und sah Vestar Ketilsson hinter mir. Er stand näher bei mir, als ich vermutet hatte, doch war es mir gleich. Ich kannte ihn schon lange und wir verstanden uns immer gut, doch in letzter Zeit hatte sich das Verhältnis zwischen uns verändert. Nur wusste ich bislang noch nicht, wie ich dazu stehen sollte. Vestar wendete seinen Blick von mir ab und ging mit großen Schritten wortlos an mir vorbei. Er war der einzige Mensch, in dessen Anwesenheit ich die Stille ertragen konnte ohne Verlegenheit zu verspüren. Er kniete sich neben den Hirsch und betrachtete ihn. Auf dem Weg in seine Richtung, sah ich, wie er den Pfeil mit seiner rechten Hand packte und ihn mit einem Male herauszog. Ich stand über ihm und sah zu, wie das Blut aus der Wunde dieses schönen Tieres quoll. Es hinterließ einen dicken Film, sodass sich das Wasser rot färbte und eins wurde mit dem Blut. Mein Atem beschleunigte sich bei diesem Anblick, doch ich empfand keinerlei Trauer. Vestar suchte abermals meinen Blick und stand auf. Unsere Gesichter waren nicht weit voneinander entfernt und eine ungewohnte Nervosität erfüllte meinen Geist. Die Gefühlslage meines ganzen Körpers veränderte sich schlagartig. Es war mir unangenehm. Vestar bemerkte meine Unsicherheit und trat einen Schnitt zurück, doch irgendetwas in seinem Blick verriet mir, dass er Mühe hatte, sich von mir fernzuhalten. „Hier." Er hielt den Pfeil mit der Spitze nach oben vor mein Gesicht. Ich schloss die Augen und wartete auf das bekannte Gefühl des warmen Blutes auf meinen Lippen und spürte sofort den metallischen Geschmack auf meiner Zunge und noch während meine Lider mir den Blick gewehrten, erkannte ich, dass ich allein inmitten der Einsamkeit des Waldes stand. Mit dem Pfeil in meiner Hand, dessen Spitze noch immer meinen Mund berührte.

LONELY SIGNWo Geschichten leben. Entdecke jetzt