KAPITEL 9 : Bjalla

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Wie ich feststellen musste, waren Aldis und ich nicht die Einzigen in Feldafall, bei weitem nicht. Zwar habe ich nicht viel von dieser Stadt gesehen, doch reichte der kurze Weg aus dem Bau, in dem ich aufgewacht war zu der großen Halle im Zentrum der Stadt aus, um behaupten zu können, dass Aldis mit der Größe Feldafalls nicht gelogen hatte. Überall waren Menschen. Männer, Frauen und Kinder, die sich miteinander im Kampf übten. Es wurde Handel betrieben und in den kleineren Gassen wurde Fleisch und Fisch zubereitet, dessen Geruch sich durch die ganze Stadt zog. Planken und Segel verteilten sich auf dem staubigen Boden abgelegen von unserem Pfad. Schiffsbauer hantierten an unfertigen Hölzern und Stoffen. Mit jedem weiteren Schritt sah ich mehr Leben. In einer Größe, die unvergleichbar war mit unserem kleinen Kallabu. Ich folgte Aldis durch die Stadt, doch immer wieder haftete sich mein Blick an andere Menschen. Und trotz dieser Fülle spürte ich eine drückende Befangenheit, dessen Ursache ich jedoch nicht erkannte. Ich schob dieses Gefühl beiseite und bewunderte weiter die unbestreitbare Schönheit dieser Stadt. Reihen an Häusern aus Holz, Stein oder einfachen Torfballen schenkten den Menschen eine Heimat. Ihre Dächer waren aus Stroh und Schilf gefertigt. Im Vorbeigehen spähte ich in die ein oder andere Tür der Hütten und erblickte Frauen jeden Alters, die Stoffe spannen und webten, oder junge Mädchen, die den Ziegen und Schafen in den Ställen neben den Bauten Futter gaben. Seit der Nacht in der Hütte mit Vestar war ich nicht mehr die Bjalla, die ich einmal gewesen war. Ich fühlte mich rein und neu und war gespannt zu wissen, was dieser Neuanfang zu bieten hatte und ob ich tatsächlich die Hoffnung haben könnte in Feldafall Fuß zu fassen und so mit meiner Vergangenheit abzuschließen. Trotz der Schnitte und Flecken in meinem Gesicht und auf meinem restlichen Körper entfachte neue Kraft in mir, als ich Aldis zur Halle folgte. Ich trug eines ihrer Gewänder. Auch wenn nur ich diese Veränderung an mir wahrnahm, machte es mich Stolz zu wissen etwas zu tragen, das meine Fraulichkeit zeigte und mich von innen heraus stärkte. Es war schlicht und nur leicht bemustert, doch half es mir mit den ersten Schritten zu meinem neuen Ich.
Als wir die Tore der Halle erreichten, verlor ich jegliche Vorstellungen von Größe und war überwältigt von den Massen an Holz, die diesen Wänden Halt gaben. Ich suchte den Saum von Aldis' Kleid, um mich in der Menge nicht zu verlieren und blieb dicht an ihrer Seite, bis sie sich abseits der Menge, aber in Nähe des königlichen Platzes niederließ. Die Wikinger und Frauen aßen wie wild das Fleisch von den Tischen und wetteiferten um ihre Stärke. „Iss was." Hörte ich Aldis sagen, die schon bemüht war sich rosafarbenes Fleisch von dem Tier vor uns zu lösen, von dem schon einige gegessen hatten. Bei dem Anblick wuchs mein Hunger immer mehr und ich griff mir Brot und etwas von dem noch übrig gebliebenen Resten, die Aldis nicht mochte. Zugegebenermaßen schmeckte mein erlegter Hirsch eindeutig besser, doch das Gefühl überhaupt auf etwas essbarem zu kauen, bereitete mir ungeheuren Genuss. Aldis deutete immer wieder auf Frauen oder Krieger, die vor uns umhergingen und erzählte mir wer sie waren, woher sie kamen, oder warum man ihnen nicht trauen konnte. Und seit einer Ewigkeit strich mir ein zartes Lachen über meine Lippen und ich genoss Aldis' Gesellschaft, wie ich es lange nicht mehr bei jemand anderem getan hatte.
Zeit verging, bis die Stimmen, welche diese riesige Halle über Stunden gefüllt hatten, allmählich verstummten und sich die Aufmerksamkeit aller nach vorne richtete. Der König war erschienen. Sein enganliegendes wollene Wams war bedeckt mit schweren Fellen, dessen Enden an seinen Schultern mit einer glänzenden, aber schlichten Fibel zusammengehalten wurden. Er blieb vor den erhöhten Stühlen hinter ihm stehen und fokussierte sich auf diejenigen, die seine Anwesenheit noch nicht bemerkt hatten. Eine beängstigende Ruhe breitete sich aus, bis der König das Wort ergriff und somit die Stille durchbrach. „Mein Volk! Wir haben etwas zu feiern. Einige meiner Krieger sind vor zwei Tagen in ein weiteres Dorf einmarschiert und konnten uns auch dieses Land sichern. Es ist nicht viel, doch mit jedem Stückchen Feld oder Acker, das wir unser nennen können, wächst unsere Herrschaft. Wir werden gemeinsam dafür sorgen, das Feldafall die größte Stadt aller Nordländer wird. Ich werde dieses Ziel mit eurer Hilfe bis zu dem Tag meines Todes verfolgen. Aber nun lasst uns feiern und trinken und essen!" Sein Grölen drang durch die Menge und Jubelschreie ertönten, bis beinahe jeder um mich herum miteinstieg. Doch ich blieb am Rande sitzen und hörte die Stimmen des Verrats, die mich noch immer plagten. Ich war umgeben von Menschen, die dafür verantwortlich waren, dass ich kein Zuhause mehr hatte. Dennoch blieb mir keine andere Wahl, als mich ihnen zu fügen. Ich hatte schließlich keinen Ort, kein Ziel zu erreichen, sollte ich von hier fortgehen.
Während das Fest weiter seinen Lauf nahm, verfolgte ich gespannt den Gesprächen des Königs, um mehr über diesen Ort und seine Geschichte zu erfahren. Aber der Großteil dessen, was Jere von sich gab, handelte von Bettgeschichten mit sämtlichen Weibern. Jere verlor sich in die Unterhaltung mit einem seiner Leibwachen und wurde so leise, bis selbst ich kein Wort mehr verstehen konnte. Ich war gerade dabei meine Aufmerksamkeit auf ein anderes Opfer zu richten, als sich wenige Tische von mir entfernt zwei dürre Männer an König Jere richteten. „Heh, hat der König uns nichts Besseres zu bieten, als den Fraß von gestern? Wir warten schon auf unser Heldenmahl." Sie waren anscheinend nicht eingeschüchtert von der Größe und Macht des Mannes vor ihnen und konnten ihre Enttäuschung nicht zurückhalten, als sich Jere ihnen widmete. „Glaubt mir meine Freunde, wenn ich euch sage, dass es auch in meinem Interesse lag euch hier und heute etwas weitaus schmackhafteres zu bieten als Das." Er deutete auf die leeren Tische und Teller in der Halle. Als er aufstand, strich er grübelnd mit seiner rechten Hand durch seinen langen braunen Bart. „Entschuldigt mich, aber euren Frust müsst ihr an meinem Bruder auslassen. Wo ist er denn?" Jere blickte durch die Runde und wurde fündig. „Ah, da bist du kleiner Bruder, komm her Reynir. Komm zu mir." Jeres Miene trotzte nur vor Herablassung, was die Wikinger um ihn herum zu belustigen schien. Reynir drang durch die Menge und stellte sich zu dem König, der ihm eine Hand in den Nacken legte und ihn dicht neben sich zog. Selbst aus der Entfernung konnte ich die Kraft dieses Griffes erkennen, welche mit jeder Sekunde zunahm. Doch Reynir ließ sich den Schmerz nicht ansehen, was in mir sofort Bewunderung auslöste. „Ich habe meinen kleinen Bruder am vergangenen Abend darum gebeten ein Reh zu erlegen. Zumindest hatte ich gehofft, er wäre in der Lage ein paar fette Kaninchen mitzubringen, sollte ihm ein Reh zu viel Angst bereiten." Gespieltes Mitleid drang von den umliegenden Tischen und ich konnte den Zorn in Reynirs Augen aufblitzen sehen, den er mit Mühe zu verbergen versuchte. Mit der Hand noch immer im Nacken seines Bruders machte der König keinen Anschein die Demütigung sein zu lassen und setzte fort. „Nein stattdessen hast du etwas anders mitgebracht, nicht wahr?" Anspannung machte sich in mir breit, da ich wusste, dass er mich meinte. Ein Blick nach hinten verriet mir, dass die Geschehnisse vor uns beinahe die gesamte Aufmerksamkeit der Halle auf sich gezogen hatten, was dem unguten Gefühl in meinem Bauch seine Bestätigung gab. „Sagt mir wo ist sie?" Jere schaute über die Menge und alle Köpfte drehten sich. Aldis erkannte, dass sie nach mir suchten und versuchte mich auf die Beine zu schubsen. Ich wollte nicht aufstehen, doch als es Aldis gelang mich zum Stehen zu bringen und ich geschätzt hunderte Augenpaare auf mich zog, konnte ich mich nicht mehr verstecken. „Nicht so schüchtern mein Kind. Komm her zu mir und zeig dich." Der König winkte mich mit seiner freien Hand zu sich nach vorn. Ich zögerte zunächst, drängelte mich dann aber doch langsam zwischen den Menschen, die mir verstohlene Blicke zuwarfen, nach vorn. „Da bist du ja. Wo warst du bloß? Komm näher." Ich ging einen weiteren Schritt auf Jere zu, dessen Blick mir jedoch zu verstehen gab, noch näher an ihn heran zu treten. Bis ich ihm so dicht gegenüber stand, dass ich den Schweiß auf seiner Haut riechen konnte. Er griff nach mir, packte mein Kinn und wendete meinen Kopf, um mich zu betrachten. „Etwas zerkratzt, aber dennoch nicht übel." Ich konnte sehen wie sich Reynir neben mir losreißen wollte, der noch immer in dem Griff seines Bruders steckte. „Ganz ruhig kleiner Bruder ich tue ihr nichts. Ich will sie mir nur ansehen." Der König widmete sich wieder mir und fragte mich nach meinem Namen. „Bjalla.", antwortete ich und Jere wiederholte ihn für das Volk. „Ein schöner Name für eine schöne Frau. Bjalla, genau genommen gehörst du Feldafall...also Mir. Dein Dorf gehört nun uns, wie du auch. Verstehst du?" Jere wartete meine Antwort nicht ab, sondern sprach ungebremst weiter. „Nehmt sie mit und zieht ihr was anderes an." Zwei Krieger, die an des Königs Seite standen, gingen auf mich zu und packten mich an den Armen, bis sich eine bekannte Stimme einmischte. „Wartet, lasst sie." Reynir, der sich mit einer geschickten Bewegung aus den Fängen des Königs befreien konnte, unterbrach das Geschehen. „Mein Bruder, ich bin dir seit Kindestagen unterlegen. Du warst immer größer und stärker als ich, doch das hat sich geändert. Ich habe deine Krieger angeführt in jedem Dorf, das wir eingenommen haben, bei jeder noch so kleinen Schlacht. Und nicht ein einziges Mal ist dir der Gedanke gekommen mir etwas zurück zu geben." Jere war sichtlich verwundert über das Auftreten seines Bruders. „Kleiner Bruder, verzeihe mir, wenn ich deinen Stolz verletzt haben sollte. Mir war überhaupt nicht bewusst, dass du auch Gefühle hast." In der Menge ertönte stilles Gelächter. „Was willst du? Gold? Silber? Oder doch ein paar Dirnen, um deine Gelüste zu stillen?" Der König schmunzelte, doch Reynirs Gesicht zeigte keine Emotion, was Jere immer mehr verwirrte. Er war es nicht gewohnt, dass sich ihm jemand widersetzte, so wirkte es zumindest, als ich in die Augen des Königs blickte, die hin und her wanderten. Reynir machte nicht den Anschein seinem Bruder oft entgegen zu treten, doch ich hatte seine Kraft auf dem Schlachtfeld gesehen und war mir sicher zu welchen Taten er fähig wäre. Er zögerte, doch seine Antwort brachte meine Glieder zum Erstarren und auch Jere verlor für den Bruchteil eines Moments die Fassung. „Ich will Bjalla!"

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