KAPITEL 2 : Bjalla

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Ich verbrachte die vergangenen Stunden damit, mich an Geschehenes zu erinnern, an Dinge zu denken, die mich im Augenblick vergessen ließen, wie abhängig ich von drei einfachen Bauern war, die mir nicht das geben konnten, wonach ich mich sehnte. Dabei wusste ich selbst nicht einmal, was mir in meinem Leben fehlte. Aber ich konnte mir einfach nicht eingestehen, dass ich nur diese eine Seite des Lebens und der Welt zu sehen kriegen sollte. Die Menschen um mich herum glaubten allesamt an das Schicksal, welches jedem einzelnen von den Göttern zugesprochen wird. Doch warum sollte es mein Schicksal sein in Kallabu, einem unbedeutendem Dorf Nähe Feldafall alt zu werden, ohne die wahren Freuden des Lebens gesehen zu haben. Mir wurde eine zweite Möglichkeit eröffnet und ich bin davon überzeugt, dass diese einem weit größeren Zweck dient, als das Arbeiten zwischen stinkenden, alten Wikingern. Sei es Odin, der Allvater, der größte aller Götter, oder jemand anderes, der über mein Schicksal entschied. Hier hinterfragte niemand die Taten Odins, oder die Geschichten seiner Opferung am Weltenbaum Yggdrasil, doch sollte es ihn wirklich geben, warum hat er mich dann zu Isgerd und ihrer Familie gebracht, ohne mir den Sinn dahinter zu offenbaren. Kein Wikinger auf dieser Welt würde jemals die bloße Existenz Odins anzweifeln, geschweige denn die Wahrhaftigkeit seiner Macht und Magie hinterfragen. Und auch ich, Bjalla Die Einsame, wurde in diese Kultur hineingeboren, doch der Vater aller Götter hat sich mir bis zum heutigen Tage nicht einmal offenbart. Somit konnte und wollte ich sein Dasein in der Tiefe meines Herzens noch nicht anerkennen. So gern ich auch einen Sinn meiner Gestalt innehaben wollte - sei es der Glaube an Odin und seine Götterfreunde - widersprach es meinen Prinzipien mich der Gnade der Götter anzuvertrauen. Das ist aber nichts, was ich den Menschen um mich herum jemals sagen würde, aus dem Wissen heraus, dass es Verrat wäre unsere Gebräuche abzulegen. Auch wenn dies bedeuten würde, dass mir die Schönheit Walhallas verwehrt werden würde. Der Ort, an welchem jeder im Kampf tapfer gefallene Wikinger nach seinem Tod lebt, mit Odin an seiner großen Tafel speisen, und lange verloren Freunde wiedersehen kann. Ein vollkommener Ort ohne Hass und Leid, an dem man von Angesicht zu Angesicht in die Augen seiner Götter blicken kann. So wird es zumindest in den vielen Geschichten und Sagen berichtet, die mit der Zeit auch zu mir durchdrangen. Doch diese Tatsache würde ich in Kauf nehmen, um ein Ziel für mich zu finden, das mich in all seinen Zügen erfüllt.

Mein Blick haftete an zwei jungen Mädchen, die Hand in Hand zu den Gesängen der Frauen in dieser Halle tanzten. Ihre verschmutzten Kleider schwangen durch die Luft und ihr Gelächter ging zwischen den dominanten Männerstimmen um sie herum unter, doch die Freude in ihren Gesichtern erfasste auch mich. Und ich erinnerte mich an die wenigen Tage, an denen ich mit Vestar genauso getanzt hatte, unbeschwert und frei von allen Sorgen und ich erkannte, dass das Alter und die Erfahrungen mehr Fluch als Segen waren. Ich wollte wieder zehn sein.

Immer noch die beiden Mädchen beobachtend ließ das dröhnende Erklingen eines Hornes mich und die gesamte Menge der Halle verstummen. Und plötzlich war der Augenblick gekommen auf den alle in unserem Dorf – außer mir – gewartet hatten. Den Göttern von Odin über Thor bis hin zu Freyja sollte noch heute gehuldigt werden. Für diesen Anlass hatte ich den schönen Hirsch erlegt und für diesen Anlass versammelte sich das ganze Dorf in unserer kleinen Halle. Nach und nach wurde der Raum um mich herum leerer und Männer, Weiber und Kinder gingen allesamt auf den Hof, um dieser Opferung beizuwohnen. Die alleinige Vorstellung, dass eine große, unerreichbare Macht mein Schicksal bereits vorherbestimmt haben sollte, war für mich schon schwer genug zu verstehen. Doch dass man diesen Göttern noch ein Opfer darzubringen hatte, um Liebe, eine erfolgreiche Ernte, oder den Sieg in einer Schlacht herbeizurufen, konnte ich nicht nachvollziehen. Ich spürte wie sich die Aufregung der Menge in eine Spannung verwandelte, die ich mir nicht erklären konnte. Als sich nur noch vereinzelnd Kinder und kranke, alte Wikinger als Letzte aufmachten, um die Geschehnisse des Tages nicht zu verpassen, entschloss auch ich mich dazu den Vorhof aufzusuchen. Als ich die schwere, hölzerne Tür aufschob, kribbelte es auf meiner Haut und ich verspürte die Kälte des Windes durch mein dunkelblondes Haar wehen. Die Klänge von Hörnern und Trommeln erreichten auch meine Ohren und begleiteten die Schar der Menschen bis hin zum Flussufer. Das Wasser glitzerte und ich sah, wie sich der Mond inmitten der flachen Wellen spiegelte und die letzten Sonnenstrahlen des vergangenen Tages die Landschaft erhellten. Durch die Schönheit des dunklen Wassers sehnte ich mich nach der unerreichbaren Stille dieser unberührten Finsternis. Ich sah mich selbst auf der Oberfläche des Wassers und erkannte das Mädchen nicht, in dessen dunkle Augen ich blickte. Wer war sie? Wer war Bjalla? Etwas von mir entfernt waren Holzplanken zu einer hohen Feuerstelle aufgetürmt, umrandet von rotbemalten Steinen. Als das Feuer entfacht wurde, stiegen die Flammen empor wie ungezügelte Schlangen, die sich erbarmungslos um ihre Beute stritten. Es bildete sich ein dichter Kreis von Menschen, deren Körper im warmen Licht des Feuers erstrahlten.

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