Kapitel 18

412 27 2
                                    

Insgesamt schafft Frederik es eine stunde lang bei mir zu bleiben, bis sein Melder einen neuen Patienten ankündigt und er sich verabschiedet. Diese Stunde lang einfach nur mit ihm mal über sein Leben zu reden und den Unfall zu analysieren tat aus einem unerklärlichen Grund so gut, sodass ich es sogar wage, ohne Schlafmittel die Augen zuzumachen. Ich habe in der Nacht zwar unglaublich viele Albträume, jedoch wache ich nicht von einem einzigen auf und schlafe bis zur morgendlichen Visite, die um 7 Uhr ist, durch. Anschließend kommt erst mein Frühstück und dann die Physiotherapeutin das erste mal zu mir und steht mit mir gemeinsam auf. So gut es eben mit einem gebrochenen Bein, das eingegipst ist, geht. Meine Beine fühlen sich unglaublich schwach und gleichzeitig so schwer wie noch nie an - am liebsten würde ich mich direkt wieder zurück ins Bett legen, aber sie erklärt mir, wie wichtig es ist, dass ich wieder mobiler werde und mobil bleibe, was mich schlussendlich dazu überredet, weiterzumachen. Nach einer halben Stunde Therapie bin ich komplett fertig und lege mich mit ihrer Hilfe zurück ins Bett. „Danke!" Keuche ich müde aber glücklich und sie lächelt. „Gerne. Morgen bist du wieder fällig" erklärt sie mir grinsend und ich muss ebenfalls lächeln. Sie packt ihre Sachen zusammen und geht weiter zum nächsten Patienten. Ich ziehe mir die Decke mit letzter Kraft bis unter die Nase und schlafe wieder für ein paar Stunden ein. Als ich meine Augen wieder aufmache, sitzt Hannah gut gelaunt neben meinem Bett. „Wenn du schläfst, siehst du echt süß aus" stellt sie fest und ich versuche sie böse anzuschauen, scheitere jedoch kläglich, als sie anfängt zu lachen und mich mit ihrer guten Laune etwas ansteckt. „Wie geht es dir heute?" fragt sie sanft, aber ich zucke nur mit den Schultern. „Gemischt würde ich sagen. Lukas schwirrt die ganze Zeit in meinem Kopf, aber der Psychologe kommt heute Nachmittag zum zweiten Mal, die Physiotherapeutin war vorhin zum ersten Mal da und ich mache meine Bewerbungsunterlagen später fertig" antworte ich. „Klingt doch gut!" bestätigt sie und ich nicke. „Ich hoffe wirklich, dass ich einen Platz bekomme" seufze ich. „Ich würde mich sehr für dich freuen!" bestätigt Hannah und lächelt. „Lust auf Eine runde Schach?" fragt sie und holt ein Spielbrett aus ihrem Rucksack raus. Ich muss lachen - das erste mal seit ich wach bin - und nicke erfreut. Wir spielen bis der Psychologe nachmittags kommt und Hannah sich verabschiedet. „Kann ich dir morgen meine fertigen Bewerbungen mitgeben?" frage ich sie und sie nickt. „Klar. Melde dich wenn was ist! Bis morgen" lächelt sie und verschwindet. Ich schaue seufzend zu dem Psychologen, der es sich neben meinem Bett mit seinen Unterlagen bequem gemacht hat und fange wenige Sekunden später an, mit ihm über das erlebte zu reden und Tausende von Tränen in meinem Gesicht zu verteilen.

Die nächsten Wochen verlaufen immer gleich, auch wenn ich von Tag zu Tag körperlich fitter werde. Morgens kommt immer die Physiotherapeutin vorbei, tagsüber bekomme ich regelmäßig Besuch und muss immer wieder durch Kontrolluntersuchungen durch und jeden Nachmittag unter der Woche kommt der Psychologe vorbei. Je fitter ich werde, desto mehr fange ich tagsüber an die Zeit zum lernen zu nutzen - auch, weil es mich daran hindert, über meine grau-schwarze Welt nachzudenken. Nach insgesamt 6 Wochen Krankenhaus werde ich wieder entlassen. Auf eine anschließend Reha verzichte ich auf eigene Verantwortung. Ich bekomme morgens meine letzten Untersuchungen und anschließend meinen Arztbrief und werde dann von Frederik abgeholt, da er darauf bestanden hat, mich nach Hause zu bringen, nachdem Hannah arbeiten muss und keine Möglichkeit hat, mich zu fahren. „Können wir? Bist du bereit?" fragt er mich und ich nicke. Er nimmt meine Tasche vom Bett und geht mir voraus aus dem Zimmer. Ich folge ihm voller Vorfreude auf zuhause durch den Gang, bis wir vor dem Aufzug ankommen. „Hast du heute komplett frei?" frage ich, als sich die Türen geschlossen haben und er nickt. „Na dann kannst du die Zeit ja mit deiner Freundin genießen" stelle ich fest, wobei es mich viel Überwindung kostet, da ich auch lieber mit Lukas meine Zeit verbringen würde, als zu Hause. „Mal schauen" sagt er nur und schaut an die Decke des Aufzugs. „Freust du dich nicht?" frage ich besorgt, aber er zuckt nur mit den Schultern. Ich beobachte ihn schweigend, bis sich die Türen wieder öffnen und wir raus auf den Parkplatz zu seinem Auto laufen. „Ein mal einsteigen bitte" grinst er und öffnet mir die Beifahrertür. „Danke" lächle ich und lasse mich auf den Sitz fallen. Wieder in einem Auto zu sitzen macht mir unglaubliche Angst, aber ich versuche es zu verstecken. Ich atme tief ein und aus und versuche das flaue Gefühl in meinem Magen, das mir sagt, dass ich hier nicht sein sollte, zu ignorieren. Frederik schließt die Tür und verstaut meine Tasche im Kofferraum, ehe er sich neben mich setzt. „Nach Hause?" fragt er und ich nicke. Er schnallt sich an und fährt los. Nur zwanzig Minuten später kommen wir zu meiner Erleichterung zuhause an, steigen aus und Frederik trägt wieder meine Tasche für mich. Ich schließe die Haustür auf und gehe ihm Voraus das Treppenhaus nach oben bis vor die Wohnungstür. „Ich glaube, ich schaffe das ab hier" sage ich leicht lächelnd, aber er schüttelt den Kopf. „Ich bringe dich mindestens bis aufs Sofa" erklärt er und ich sehe diesen Blick, der mir sagt, dass eine Diskussion sinnlos ist. Ich verdrehe leicht die Augen, Schließe die Tür auf und gehe hinein in den Flur, wo ich mir meine Schuhe von den Füßen streife. „Wo soll deine Tasche hin? In dein Zimmer?" fragt Frederik und ich nicke. Er verschwindet den Flur entlang, während ich ins Wohnzimmer abbiege und dort auf ihn warte. „Brauchst du noch etwas?" fragt er, als ich zurück komme, aber ich schüttle den Kopf. „Hast du eigentlich schon etwas von einer der Unis gehört?" fragt er weiter, aber ich schüttle wieder den Kopf. Er setzt sich neben mich aufs Sofa und reicht mir die sofadecke. „Ich bin froh, dass ich dich habe" sage ich und beuge mich zu ihm rüber, um ihn zu umarmen. „Ich auch" sagt er leise, erwidert die Umarmung und küsst mich leicht auf die Haare. „Geh nach Hause. Deine Freundin wartet" bitte ich ihn, woraufhin er sich von mir löst. „Wenn etwas sein sollte, meldest du dich!" ermahnt er mich und ich nicke. „Versprochen?" „versprochen!". Er erhebt sich und verschwindet den Flur entlang nach Hause.

Lebensgeschichte (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt