Kapitel 5

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Wie bereits erwartet, hieß Cassandra es nicht gut, dass Marla erst einen Tag später geantwortet hatte. Das zeigte sie natürlich nicht direkt, sondern kam mit der Ausrede, Klausuren zu kontrollieren und den Rest der Sprachreise für die 10. Klassen zu planen. Nun es war nicht ganz gelogen, schließlich waren es noch zwei Wochen bis es Mitte September losging. So konnte sich Marla auch besser auf anstehende Arbeiten konzentrieren und Cassandra hatte ebenso ihre Zeit für sich. Letzteres vor allem, da Cassandra sich bis drei Tage vor der Abreise nach London krank meldete.

"Hey, Schäfer! Weißt du, wo Frau Mueck ist?", mit aufgerissenen Augen starrte Marla die Klassenkameradin an, die ihr die Frage gestellt hatte, ihr Herz schlug schneller, weil sie nicht wusste, warum ausgerechnet sie gefragt wurde.  "Ähm", sie räusperte sich, um einen ordentlichen Ton raus zu bekommen, "was genau meinst du? Sie hat sich krank geschrieben, laut Herrn Wiese." Tatsächlich wusste Marla nicht, ob sie wirklich krank war, immerhin hatte sie seit jenem Abend nichts mehr von der Lehrerin gehört und sie konnte nur vermuten, dass Cassandra einen auf Sturkopf machte. Elf Tage lang. "Naja aber deine Eltern sind doch mit ihr befreundet, ich dachte du wüsstest genaueres." Ach stimmt, diesen bitteren Nebengeschmack dieser Freundschaft zwischen ihren Eltern und Cassandra, vergaß Marla oft. "Lilly, du weißt, dass ich nicht den besten Kontakt zu meinen Eltern habe, deshalb wohne ich allein. Das heißt auch, ich habe keine Ahnung, was mit Frau Mueck ist. Ich hab' ehrlich gesagt auch keine Lust mich jetzt damit auseinander zu setzen, ich muss zum Spanisch Unterricht."

Marla sprach definitiv nicht gern über oder mit ihren Eltern, umso erfreuter ist sie über die Tatsache, allein zu wohnen. Ihre Eltern waren ein Komplex. Nach ihrem Outing bei ihnen schien es so, als würden beide es gut akzeptieren. Doch zu ihrem 18. Geburtstag vor neun Monaten schmissen sie Marla raus. Dennoch organisierten sie ihr eine 2-Raum Wohnung und gaben ihr finanzielle Unterstützung. Vanessa meinte immer, es habe etwas mit Frau Mueck zu tun. Sie wusste natürlich nichts von der Affäre, aber dass Marlas Eltern mit der Englischlehrerin ihrer Tochter befreundet waren, war kein Geheimnis.
'Denk doch mal drüber nach. Kaum nachdem du rausgeschmissen wurdest, kommt raus, dass deine Eltern mit der Mueck befreundet sind und boom du hast ne eigene Wohnung.', erklärte Vanessa damals. Marla jedoch tat es jedoch so ab, dass ihre Eltern doch noch ein wenig Gewissen hatten. Und dreieinhalb Monate später begann das alles zwischen Marla und Cassandra, doch die Schülerin hatte sich noch nicht getraut zu fragen, ob ihre Lehrerin Einfluss dahinter hatte. So wie es schien musste das wahrscheinlich auch noch etwas warten. Der morgige Donnerstag wäre die letzte Möglichkeit Frau Mueck noch einmal in der Schule und vor der Sprachreise zu sehen, da Freitag Sportfest - für Marla also frei - und Sonntag Abreise war.

Hastig nahm die Schülerin ihren Helm ab und sprintete Richtung Haupteingang der Schule. Nicht nur, weil sie nur noch vier Minuten bis Unterrichtsbeginn hatte, sondern auch in der Hoffnung Cassandra noch persönlich eine gute Reise zu wünschen. Marla wollte bereits den gesamten Donnerstag auf sie treffen, doch entweder Freunde, Unterricht oder Sport in der entfernteren Turnhalle ziehten einen Strich durch den Plan, so sah Marla, nachdem sie um die Ecke bog nur, wie die Englischlehrerin wegfuhr. "Na klasse.", murmelte sie zu sich selbst. Sie würde ihr also nur schreiben können. Doch jetzt musste sie erstmal die letzten zwei Mathestunden überleben.

Aus Erfahrung der eigenen Sprachreise nach England wusste Marla zum Glück, wann und wo es Sonntag Abend los ging. Ein weiteres Glück: die Gaststätte, in der sie an diesem Abend kellnerte, war keine 100 Meter von dem Treffpunkt für die 10. Klassen und Lehrer entfernt. So sehr sich Marla gerade wie ein Stalker fühlte, so wollte sie sich noch einmal richtig verabschieden, nicht nur von Cassandra, sie hatte zwei gute Freunde in dem Jahrgang, welcher nun eine Woche in England unterwegs sein würde.
"Hey, Marla", quietschte Emilio laut im Schlepptau mit Larissa, "was machst du so spät noch draußen, der Sandmann ist seit 'ner Stunde vorbei." "Haha witzig, Kleiner. Ich bin mit meiner Schicht schon fertig und ich wusste, dass ihr von hier abfahrt." "Das ist lieb von dir, Marla.", fiel ihr Larissa um den Hals und kicherte. Emilio beobachtete diese Geste und grinste Marla wissend an, was diese verwirrte, doch als sie nachfragen wollte meldete sich eine allzu bekannte Stimme:
"Fräulein Schäfer, welche Überraschung, Sie hier anzutreffen", natürlich gehörte die Stimme zu Cassandra, bei der sich die Schülerin noch nicht sicher war, ob das gerade ernst oder aufgesetzt war, doch sie kam in Begleitung von Frau Weinert, ihre Spanischlehrerin, welche mit nach London fuhr. "Guten Abend, Marla.", grüßte diese freundlich. "Guten Abend. Ich wollte mich nur noch kurz von einigen verabschieden, wenn ich einmal hier bin", lachte Marla nervös. Sie wollte nicht auffliegen. "Na dann, ich sehe mal nach meiner Klasse." Mit diesen Worten ging Frau Weinert wieder einige Meter weiter weg, was Frau Mueck dazu veranlasste, mit Marla zu sprechen: "Fräulein Schäfer, Sie haben doch gerade kein Gepäck, wären Sie so nett mir bei meinem Koffer im Auto zu helfen?" "Natürlich doch."

"Was machst du wirklich hier, Marla?", flüsterte Frau Mueck so laut sie konnte, sobald sie außer Hör- und Sichtweite der anderen waren, "ist ja nicht so, dass du dich die letzten zwei Wochen hättest melden können." Die Schülerin hätte jetzt liebend gern eine Szene gemacht, aber sie wusste sich noch zu kontrollieren. Sie wollte sich lediglich ordentlich verabschieden. "Also zum einen, ich wollte dir Zeit geben, um dich zu beruhigen, außerdem hast du dich ja auch krank gemeldet, da wollte ich dir nicht irgendwie zu nahe treten und wenn ich daran erinnern darf: wir sind hier zu nichts verpflichtet, ich wollte dir persönlich eine schöne Reise wünschen, schließlich hab ich dich am Donnerstag knapp verpasst. Es wäre jetzt also schön, wenn du kurz aufhörst, dich so kindisch zu verhalten, wegen einer Nachricht, die ich dir mal etwas später geschickt habe." Zwischendurch musste Marla aufpassen nicht zu laut zu reden, da sie leicht gereizt von Cassandras Worten war. Diese atmete einmal tief durch, um ebenso die Fassung zu bewahren und antwortete ruhig, lächelnd und die letzten Worte ignorierend: "Es ist schön, dich noch einmal zu sehen und, dass du vorbei gekommen bist", sie umarmte Marla und flüsterte weiter: "aber ich hab dich nicht ignoriert. Vermieden, ja. Doch nicht, weil du später geantwortet hast, das hatte andere Gründe." Gegen Ende wurde Cassandras Stimme brüchig, was auch Marla sofort bemerkte und sich löste: "Hey, was ist denn los?" "Das erkläre ich dir, wenn ich wieder da bin, dann haben wir mehr Ruhe. Außerdem kommt da der Bus gefahren", sie zeigte auf jenen, der gerade an die Haltestelle fuhr und drückte danach eine Tasche aus der Hintertür in Marlas Hand, "so, hier die Tasche, schließlich sind wir deshalb hier", zwinkerte sie. "Vermiss mich nicht zu sehr, Fräulein Schäfer", lächelte die junge Lehrerin und gab Marla einen flüchtigen Kuss, auf den diese nicht vorbereitet war. "Na.. Natürlich nicht, Frau Mueck.", stotterte sie und sie gingen zur Haltestelle.

Dort angekommen übergab Marla die Tasche ihrer Lehrerin und ging nochmals zu Emilio und Larissa, um sich mit einer festen Umarmung zu verabschieden. "Mal sehen, wie gut euer Englisch am Freitag ist, wenn ihr wieder hier seid", lachte Marla, "so und jetzt ab, nicht dass es noch länger dauert." "Ja, Mama.", scherzten die zwei bevor sie in den Bus stiegen, welcher etwa zehn Minuten später losfuhr. Die dunkelhaarige schaute noch kurz hinterher, bis sie selbst zu ihrem Motorrad ging und Nachhause fuhr.

Dem Verlangen verfallenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt