Dem Verlangen verfallen

Kapitel 6

Nach vier Stunden Fahrt machte der Bus zum ersten Mal eine große Pause, um auch den Fahrer zu wechseln, welcher die Klassen nach England und zurück bringen würde. Die 10. Klässler konnten nicht schnell genug aus den Bussen heraus stürmen, auch die Lehrer vertraten sich erstmal die Beine. Cassandra hatte dieses Jahr Glück mit den Kollegen, die mitkamen sowie die Tatsache, dass ihre Kollegin und gute Freundin Elena Weinert im selben Bus saß. Jedoch erwartete sie nicht, dass diese mehr mitbekam, als sie sollte.

"Cassandra, ich denke wir sollten uns mal dort drüben über den Ablauf unterhalten.", sagte Frau Weinert mit ruhiger Stimme, hielt Cassandra einen Tee entgegen und zeigte in eine abgelegene Ecke auf dem Rastplatz. Sichtlich verwirrt antwortete diese: "Elena, ich dachte das hatten wir bereits Freitag besprochen." "Komm' bitte einfach mit!" Mit diesen Worten packte Elena ihre Kollegin am Handgelenk, um sie in die Ecke zu zerren.

Außer Hörweite anderer Schüler oder Kollegen zischte Elena nun: "Es geht mir nicht um den verdammten Ablauf. Was zur Hölle war das mit Marla vor der Abfahrt?" "Was meinst du? Sie hatte mir geholfen meinen Koffer vom Auto zum Bus zu tragen.", Cassandra wusste nicht genau, worauf ihre Kollegin hinauswollte, doch sie hatte gerade ein mieses Gefühl. "Hör auf mich für dumm zu verkaufen, Cassandra, wir kennen uns jetzt seit sieben Jahren. Ich hab gesehen, wie ihr euch umarmt und geküsst habt. Was läuft da bitte mit deiner Schülerin?" Elenas Stimme wurde mit jedem Satz lauter, aber nicht so, dass es jemand anderes hören konnte, dennoch schaute sich Cassandra nervös um, um zu sehen, ob sich jemand in ihrer Nähe aufhielt. Ihr Adrenalin im Blut konnte sie förmlich bei jedem Pulsschlag spüren, da sie es hasste, wenn man ihr so auf der Spur war.
"Da.. Da läuft nichts ernstes. Es ist kompliziert zu erklären.", flüsterte Cassandra und Elena meinte Schmerz in den Augen ihrer Freundin zu erkennen, als Cassandra 'nichts ernstes' aussprach. "Cassandra, da darf gar nichts kompliziert sein, weil da überhaupt gar nichts laufen darf." "Wir haben eine Affäre, okay? Bist du zufrieden?", gab Cassandra verzweifelt zu und aus Elenas Gesicht verschwand jegliche Farbe.

Diese atmete ein paar Mal tief durch bevor sie nachhakte: "Wie... ähm wie lang geht das denn schon?" "Etwa seit März." "Ein halbes Jahr?", quietschte die Spanischlehrerin auf, "wie kommt man auf diese Schnapsidee?" Beschämt blickte Cassandra nach unten und suchte nach den richtigen Worten. "Okay sorry, ich wollte es nicht so harsch ausdrücken, aber wenn man erfährt, dass die Kollegin und beste Freundin mit einer Schülerin ins Bett steigt, ist das ziemlich überfordernd." "Ich weiß selbst nicht genau, was mich damals dazu gebracht hatte", setzte Cassandra nun an, "wahrscheinlich einfach, weil ich ein paar Gespräche von Marla unabsichtlich gehört hatte und du noch etwas erzählt hattest." "Ich? Wieso sollte ich etwa- oh, richtig diese Sache. Aber das hätte ich nie erzählen dürfen, selbst dieser kleine Teil war schon zu viel." "Ich dachte ja als Beratungslehrer weiß man so etwas."

Die Sache war die: Kurz nachdem Marla erfahren hatte, dass ihre Englischlehrerin mit ihrem Eltern befreundet war, wurde sie sich bewusst, dass es ziemlich unangebracht war, diese Anziehung zu ihrer Lehrerin zu verspüren und sie versuchte irgendwie diese loszuwerden. Frau Weinert war sofort Marlas komisches Verhalten aufgefallen und bat sie mit ihr zu sprechen. "Also Marla, was ist los? Du verhälst dich einige Wochen bereits so anders. Liegt es am Stress mit den Klausuren?" "Würden Sie mir denn glauben, wenn ich einfach ja sage?" "Nein würde ich nicht, es ist mehr dahinter, richtig?" Wieder mal fragte sich Marla, wie diese Frau Menschen so gut lesen konnte, aber sie wusste nicht, ob es eine gute Idee war, etwas zu erzählen. Doch Marlas Mund war bereits schneller als ihr Gehirn: "Also es gibt da jemanden, aber-" "Aber sie ist vergeben?" Wie könnte Frau Weinert wissen, dass die Person nicht männlich ist. Andererseits hatte Marla das Gefühl, ihr sah man doch an, auf Frauen zu stehen, deshalb hinterfragte sich es nicht.

"Ähh, naja ich denke nicht. Zumindest ist sie nicht verheiratet-" Schon hätte sich Marla dafür schlagen können, so viel zu sagen. "Sie ist also auch älter und du denkst, dass es deshalb nichts werden kann?" "Ja das ist ein ziemlich entscheidender Punkt, noch dazu, weil meine Eltern sie gut kennen." Mit diesen Worten wusste Elena auch genau, wer gemeint war, doch ließ es sich nicht anmerken. Sie war aber froh, dass sich Marla so anvertraute, ihr das indirekt zu sagen, sie erzählte ihr noch die Standard-floskeln und verabschiedete Marla, bevor die junge Lehrerin ins Vorbereitungszimmer verschwand.

Dort war natürlich der größte Klatsch und Tratsch im Vordergrund und auch Cassandra redete mit Elena über alles mögliche. Selbst über Dinge, die Lehrer wirklich nichts mehr angingen: "Wie manche Schüler sich auf den Gängen regelrecht auffressen, ist wirklich grenzwertig, nicht wahr?" Eigentlich hörte Elena gar nicht mehr wirklich hin, bis der Name Marla viel: "... Findest du auch?" "Entschuldige, was?" "Ich hab dich gefragt, ob sich Marla in deiner Gegenwart auch so komisch verhält, anderen Kollegen ist nicht wirklich etwas aufgefallen." "Tja wenn man auf jemanden steht, verhält man sich komisch.", sagte Elena ohne zu wissen, was sie gerade gesagt hatte. "Willst du damit sagen, dass Marla auf mich steht, ja ne ist klar", lachte Cassandra und Elena wurde nervöser, "es war doch nur ein Witz, oder?" "Naja, also ich hab vorhin mit Marla gesprochen, weil ich gemerkt habe, dass sie sich anders verhält, aber als sie dann angefangen hat, dass es an einer weiblichen Person lag, die älter und mit ihren Eltern befreundet ist, konnte nur von dir die Rede sein, sonst hätte sie nicht so rumgedruckst und eigentlich hätte ich dir das jetzt nicht erzählt sollen. Ich kann es auch komplett falsch aufgefasst haben.", ratterte Elena runter und hoffte ihre Kollegin und Freundin würde deshalb nicht auf Marla zu gehen.

Jetzt zu erfahren, dass zwischen Cassandra und Marla, einer Schülerin, etwas lief, ließ Elena in eine heikle Situation kommen. Sie würde ihre Freundin natürlich nicht verraten, aber wenn es wieder und häufiger solche Momente der Unachtsamkeit gäbe, könnte sie beim besten Willen keinem der beiden helfen. "Versprich mir bitte, es nichts zu melden. Ich weiß, dass das, was wir machen, sehr riskant ist, aber was soll ich machen, wenn mich immer etwas zu ihr hinzieht?" "Bist du verliebt?", fragte Elena monoton und sah wie Cassandra zögerte, versuchte aber etwas zu verheimlichen: "Wir haben ein Abkommen, wenn eine von uns Gefühle entwickelt, beenden wir die Sache." "Das beantwortet nicht meine Frage. Bist du verliebt?" "Ich...", Frau Mueck räusperte sich, "ich weiß es nicht, okay? Ich weiß nur, es haben sich über das halbe Jahr einige Dinge geändert." "Und was ist mit Marla?" "Das Mädel redet mit mir nicht über 'Diesen Gefühlskram', in der Sache komme ich nicht an sie ran.", gab die Lehrerin bedrückt zu und Frau Weinert erkannte, dass ihre Freundin mehr für ihre Schülerin empfand, als sie zugeben wollte. Doch, wenn das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte, könnte es am Ende Verletzte geben.

" Wir sollten jetzt zum Bus, wir fahren in acht Minuten wieder weiter.", wechselte Cassandra das Thema, stoppte aber kurz, als sie eine Nachricht bekam. Sie war von Marla.

Ich hoffe, die Fahrt ist nicht zu anstrengend. Kommt gut an und sag bitte Bescheid, wann genau du wieder in Deutschland bist. Ich muss mit dir über etwas reden, aber genieße erstmal die Zeit in England. Bis Freitag
-Marla

Freude gemischt mit einem komischen Gefühl im Magen, sah Cassandra dennoch mit einem Lächeln auf ihr Telefon, was ihrer Kollegin nicht unbemerkt blieb, weshalb diese ihr über die Schulter schaute. "Sei nicht noch auffälliger, du weißt, wie neugierig unsere Kollegen sind.", lachte Elene. "Ja, ich merke es, weil mir gerade eine über die Schulter schaut", gab die Ältere entnervt von sich, "so, genug von ihr geredet und lass uns zum Bus gehen."