Kapitel 38

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Henry würde zurückfliegen. Er würde mich hier, in Denning, zurücklassen. All die Jahre war ich an ihn gebunden gewesen. Wenn ich ehrlich war, konnte ich nicht sagen, dass er mir nichts bedeutete. Meine Gefühle für ihn waren echt und tiefgehend. Aber leider konnte ich ihn nicht so sehr lieben, wie ich sollte.

Ich würde ihm dennoch, auf ewig dankbar sein. Für alles, was er mir ermöglicht hatte. Egal, was für Fehler er auch begannen hatte. Henry würde, trotz allem, einen Platz in meinem Herzen finden. Aber ich musste einsehen, dass er mir nicht annähernd so viel bedeutete, wie Everett Brooks.

All die Jahre dachte ich, dass Tobias meine erste große Liebe war. Aber eigentlich stimmte es nicht. Everett war Tobias immer einen Schritt voraus. Auch wenn ich ihn als Freund kennen gelernt hatte, kamen irgendwann die Gefühle hoch.

Everett war meine erste große Liebe und er sollte die einzige bleiben.

Er war geduldig mit mir. Er wusste, dass es Zeit brauchen würde, bis ich mich endgültig, emotional, von Henry lösen konnte. Jedes Mal, wenn wir auf der Couch saßen oder mit Oatmeal, im Garten rumtobten, achtete er stets darauf, dass er mich nicht allzu sehr beanspruchte. Seine Berührungen waren stets von Vorsicht geprägt.

Ich selber, wusste nur zu gut, dass es zu unserer beiden Besten war. Dennoch wünschte ich mir, dass er mich an sich zog und einfach hielt, wie er es früher immer getan hatte. Zu groß, war die Angst, den jeweils anderen zu verlieren. Also taten wir das einzig, uns mögliche. Wir versuchten die vergangen fünf Jahre, als Freunde, aufzuholen. Verbrachten immer mehr Zeit mit meiner Familie und den Freunden, die ich in den letzten Wochen machen konnte. Nach der Arbeit, waren wir, für gewöhnlich, mit Farren und Derek unterwegs. Die Dämmerung war meistens Gwens Familie vorbehalten, da sie uns ständig zu sich einluden. Aber die Nächte, gehörten uns alleine.

Nicht, dass wir miteinander schliefen. Über die Zeit hier, in Denning, hatte ich gelernt, dass Everett mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hatte. So wie ich, kämpfte er seine eigenen Schlachten. Als junges Mädchen, war ich blind vor seinen Problemen. Doch dieses Mal, verschloss er sich nicht mehr vor mir. Ich erkannte den Schmerz, mit dem er sich rumplagen musste und blieb daher die meiste Zeit über bei ihm. Wenn wir eine vernünftige Beziehung führen wollten, mussten wir mit Vertrauen und Loyalität anfangen.

Und auch, wenn ein Teil meines Herzens immer noch an Henry hing, konnte ich mir mein Leben nicht mehr ohne Everett vorstellen. Mit ihm an seiner Seite, wurden die Tage erträglicher und die Dunkelheit in meinem Inneren schwand langsam dahin. Nach und nach, fand ich wieder einen Weg zu mir selbst.

Die Wunden, in meiner Seele, heilten Stück für Stück. Bis ich irgendwann bereit war, mein Herz, einen Spalt weit, zu öffnen. Meine Schwester und ihre Kinder, waren die ersten, die Eintritt fanden. Gefolgt vom Rest meiner Familie und Everett. Farren, Robin, John und Derek. Sie alle fanden einen Platz.

Ich richtete mich wieder in meiner, früher so verhassten Heimatstadt, ein. Und manchmal, an besonders guten Tagen, tat ich etwas, was ich nie für möglich gehalten hatte. Ich besuchte meinen Bruder. Das erste Mal war unerträglich schmerzhaft, aber Everett war stets bei mir. Er wartete immer geduldig im Auto, während ich Lucas Grab besuchte.

Früher dachte ich, dass mit Lucas Tod jede einzelne Emotion aus meinem Körper gewichen war. Als könnte ich, nie wieder derselbe Mensch sein. Aber das stimmte nicht ganz. Ich konnte etwas fühlen. Nur war es viel zu intensiv, viel zu quälend, als dass ich es alleine bewältigen konnte. Das alles konnte ich aber erst, mit Hilfe meiner Therapeutin, Dr. Dickinson, herausfinden. Ohne Sie hätte ich diese Erlebnisse, nie aufarbeiten können.

Das eigentliche Kernproblem, an der Sache, lag im Alkohol. Ich suchte mir ein Ventil, um den Druck in meinem Inneren zu betäuben. Und was eignete sich besser dazu, als Hochprozentiges. Dr. Dickinson, machte mir deutlich, dass ich mich, den Ängsten stellen musste, die mich seit Jahren quälten. „Sie sind nicht wertlos, Olivia. Lassen Sie es zu, dass man Sie liebt. Eigentlich entspricht das, was ich jetzt gleich sage, nicht den Vorgaben. Aber ich glaube, dass ihr Bruder gewollt hätte, dass Sie nach vorne blicken", sagte sie mir eines Abends, als wir gerade unsere Sitzung beendet hatten.
„Danke", flüsterte ich zurück.

Out Loud - Wer immer du bistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt