Kapitel 40

1.1K 57 0
                                    

Wie schlecht es um uns stand, fand ich ein einem eiskalten Sonntagmorgen heraus. Ich wachte neben einer leeren Bettseite auf, von Everett keine Spur. Das Laken war vollkommen glattgestrichen, als hätte er es überhaupt nicht benutzt. Er musste leise aus dem Bett gekrochen sein, als ich noch schlief. Ein Schauer zog über meinen Rücken, als ich die Treppe hinablief. Ich suchte das ganze Haus nach ihm ab, bis mir klar wurde, dass er nicht da war.

Ich wollte die Hoffnung schon aufgeben, da entdeckte ich die dunkelblonde Fellmähne von Oatmeal, die mich nach draußen führte. Everett stand in Jeans und Shirt, auf dem Steg herum. Wenn ich in meinem dicken Bademantel zitterte, wie musste es für ihn sein.

Wie gerädert blieb ich in sicherer Distanz stehen. Meine Augen wanderten zuerst, den See hinauf, bis die letztlich auf Everett ruhten.

„Dich so früh wach zu sehen, ist mal eine angenehme Überraschung", begann ich zögerlich. Ich konnte mir ein Gähnen nicht verdrücken, da die Sonne nicht einmal aufgegangen war. Everett antwortete nicht. Geistesabwesend, starrte er die Wasseroberfläche hinauf.

Oatmeal winselte traurig. Vorsichtig trat ich auf Everett zu und zuckte zusammen, als seine Stimme die Stille durchbrach. „Nein!"

So hatte ich ihn noch nie erlebt. Erschrocken wich ich zurück.

„Was ist passiert?" Nach einer kurzen Pause, wagte ich einen weiteren Schritt nach vorne. Ich verstand nicht, was Everett vorhatte. Ob er überhaupt etwas vorhatte? Eins konnte ich gewiss sagen. Das was er gerade tat, war nicht normal. Als ich in unmittelbarer Nähe, zu ihm stand, streifte ich meinen Bademantel ab. Darunter trug ich bloß ein leichtes Negligé, unter dem ich augenblicklich zu frösteln begann.

Genauso vorsichtig, wie ich an ihn herantrat, legte ich ihm nun den Bademantel um die Schultern. Er brauchte die Wärme mehr, als ich. Durch meine Geste überrascht, wendete er sich langsam zu mir und da verstand ich. Ich brauchte nur einen Blick, um zu realisieren, was vor sich ging.

Es war, wie mit Lucas Tod. Manche Tage waren einfach schwer, egal wie viel Jahre dazwischen lagen. Genauso, wie bei mir, brach die Welle an Gefühlen über Everett herein.

Mir wurde bewusst, dass er nicht anders konnte, als seine Kämpfe im Stillen auszutragen. Neben Farren, hatte Everett zu niemandem so viel Vertrauen. Und ich zweifelte stark daran, dass er seine Schwester um fünf Uhr morgens wecken wollte.

Genauso, wie am Tag von Lucas Begräbnis, stand heute, eine verhängnisvolle Wolke über uns.

„Ich hatte bloß einen Alptraum", versuchte er mich abzuwimmeln. Ohne etwas zu sagen, schloss ich meine Augen und legte den Kopf an seinen Brustkorb. Er wollte sich zurückziehen, aber ich hielt ihn umso fester, bis er endlich nachgab.
„Du sollst nicht alleine sein", hauchte ich. „Es ist nicht einfach, über das zu sprechen, was einen verletzt. Und das musst du auch nicht. Aber ich will nicht, dass du alleine bist. Nicht jetzt."

Irgendwann spürte ich, wie sich seine warmen Arme um meinen Körper legten.

„Ich liebe dich", ich erschrak vor meiner eigenen Stimme. Aber es war zu spät, mein Mund konnte sich nicht mehr schließen. „Das ist das einzige Gefühl in mir, dass mich aufrecht erhält. Ich liebe dich, Everett Brooks. Mit jeder Faser meines Körpers und ich will nicht, dass du leidest. Lass mich dir dabei helfen, zu überwinden."

Er lockerte die Arme, sodass ich unter den Bademantel schlüpfen konnte. Seine Stirn legte sich an meine. „Ich liebe dich auch, Olivia Parish. Das habe ich immer getan. Ich werde dich immer lieben, bis zu meinem letzten Atemzug."

Everett hauchte mir einen sanften Kuss auf die Stirn, ehe sich seine Arme wieder fester um mich schlossen. Er fing mich immer auf, jetzt war es an mir, ihm Halt zu geben.

Hier standen wir also, am Rande der Stadt. Umringt von dichtem Wald und Steinen. Und ich wollte nichts anders mehr. In jedem Kuss, jeder Berührung, spürte ich seine Liebe zu mir. Und ich konnte mich nicht glücklicher schätzen, jemanden wie ihn zu haben.

Zwei junge, gebrochene Seelen. Er hatte mir die Flügel ausgerissen und ich ihm das Herz gebrochen. Wir waren quitt.

Doch diesmal würde ich ihn nicht verlassen. In den Armen des jeweils anderen waren wir zu Einem verbunden.

Emily und Henry waren Geschichte. Weder er, noch sie, konnten unsere Wunden heilen. Ich wollte mein Leben nur noch mit Everett teilen. Nur er konnte das heilen, was mich so sehr zerriss und ich hoffte, dass ich ihm das geben konnte, was er benötigte. Ich würde mich nie wieder von ihm fernhalten.

An diesem Tag sprachen wir nicht viel miteinander. Manchmal war es besser, einfach nur für einen Menschen da zu sein. Ihm Sicherheit und Liebe zu geben.

Wir mussten uns verlieren, um einander wiederzufinden. Nur so, konnten wir dem jeweils anderen helfen. Wann immer er nachts aufwachte, von Angst zerfressen. Dann war ich bei ihm. Immer und unwiderruflich. Ich gab mein möglichstes, ihm so viel Zuneigung zur Verfügung zu stellen, wie ich konnte.

Und jedes Mal, wenn meine Dämonen über mich hereinbrachen, war er da. Er küsste meine Tränen weg und hielt mich, bis die Schatten der Vergangenheit verschwanden. 

Out Loud - Wer immer du bistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt