Kapitel 19

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Der Whiskey brannte sich die Kehle runter. Er wirkte schnell. Sehr schnell. Ich musste mehrmals, gegen das grelle Neonlicht anblinzeln ehe sich meine Augen daran gewöhnten. Als ich endlich soweit war, starrte ich einer verzerrten Gestalt entgegen. Mein Atem stockte, als ich in den Spiegel blickte. Aufgesprungene Lippen, eingefallene Wangen. Ein vertrauter Geschmack benetzte meine Zunge, als ich mit ihr über die Lippen streifte.

Es war mitten in der Nacht, als mich die Angst packte. Ich blieb bereits viel länger in Denning, als ich es beabsichtigt hatte. Und mit jedem weiteren Tag in dieser Stadt, nahmen meine Alpträume deutlich zu. Dad, Gwen und Farren waren wunderbar zu mir. Selbst Rebecca und Tobias schienen mir gegenüber aufgeschlossener zu sein. Dennoch konnte ich die Erinnerungen nicht aus meinem Gedächtnis löschen. Sie blieben eingebrannt. Und Everett. Der Gedanke an ihn, drehte mir Magen zu.

Ich nahm einen weiteren Schluck der bitteren Brühe. Wenn es wenigstens ein guter Whiskey wäre. Doch dieser war absolut ungenießbar. Irgendeine Billig-Marke, die Dad vor einer Weile gekauft hatte. Meine lächerlichen Versuche, einen Lichtstreifen am Horizont zu erblicken, musste ich langsam aufgeben. Ich konnte weder Zeichnen, noch hatte ich die Kraft dazu ein Apartment in New York zu suchen. Denn jedes Mal, wenn ich den Laptop aufklappte und die Wohnungsanzeigen sah, drehte mein Inneres. Henry hatte seine Spuren hinterlassen. Alleine der Gedanke daran, zurückzukehren, paralysierte meine malträtierten Nerven umso mehr.

Einerseits wünschte sich ein Teil von mir, den alten Henry zurück. Er könnte mich aus Denning rausholen und zurück in meine Heimat bringen. Anderseits, wusste ich dass es nichts ändern würde. Henry nutzte sein Künstlerleben aufs äußerste aus. Seine Affäre war nur der Gipfel des Eisberges. Wenn ich daran dachte, wie er mich zu seinen Kunstausstellungen mitnahm. Und mich vorführte, als wäre ich ein besonderer Preis, den er auf dem Jahrmarkt gewonnen hatte. Nur um mich danach für eine Flasche Champagner und ein paar Zigarren fallen zu lassen. Diese Abende endeten für mich meistens mit einem Clubbesuch und einem verkaterten Morgen-danach, den ich ohne Henry verbrachte. Würde er mich hier rausholen, konnte ich mit Gewissheit sagen, dass sich nichts ändern würde.

Dennoch pushte er mich immer bis ans Limit. Er war derjenige, der meine Fähigkeiten entdeckte und ausweitete. Nun, war er nicht mehr da.

So stand ich also um drei Uhr morgens, in einem Badezimmer, dass ich nicht einmal mein eigen nennen konnte. Diesem alten Haus gehörten immer noch die Geister meiner Jugend an, dennoch spürte ich keinerlei Verbindung mehr dazu.

Der Whiskey übernahm nun die volle Kontrolle. Die Hände über dem Porzellanbecken gekrallt, nahm ich ein paar tiefe Atemzüge. Es war nicht mehr nötig, sich zu fragen, ab welchem Punkt alles den Bach runter gegangen war. Ich hatte es ganz klar vor Augen, war mir meiner Taten zu jeder Zeit bewusst gewesen. Deshalb musste ich jetzt auch mit den Konsequenzen leben. Ich hatte es ohnehin ja nicht anders gewollt.

Ohne zu wissen wie, hatte ich plötzlich mein Handy in der Hand. Ich scrollte durch meine Kontakte und hielt zögernd über Henrys Namen inne. Erneut wurden ein paar neue, ungelesene Nachrichten angezeigt. Auch wenn es mich innerlich zu zerreißen drohte, brachte ich es nicht über mich auf seinen Chat zu klicken. Ich war stark und eine unabhängige Frau, die gut auf ihn verzichten konnte. Auf ihn, und genauso gut auf all die anderen die mich wie ihr kleines Spielzeug behandelt hatten.

Ich beschloss mich am Morgen darauf, sofort auf direktem Weg in die Innenstadt zu begeben. Mir war speiübel, aber der Restalkohol der sich immer noch in meiner Blutbahn befand, sorgte dafür, dass ich mich nicht um das Getuschel und Getratsche der Nachbarschaft kümmerte. Mrs. Wheelers und ihre engste Verbündete Mrs. Williams, hatten wirklich alles daran gesetzt, die Gerüchte durch ganz Denning zu verbreiten. Sollten diese alten Schachteln doch hinter meinem Rücken reden und ihre dünnen Fäden spinnen. Zu etwas anderem waren die beiden sowieso nicht mehr imstande.

Out Loud - Wer immer du bistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt