Kapitel 10

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Seit fünfzehn Minuten sitze ich jetzt alleine im Zelt und warte darauf, dass Tobias wieder zurückkommt. Warum hat ihn die Frage nur so aufgeregt? Für ihn ist es doch quasi normal, dass er Leuten eine reinhaut. Obwohl? Kurz stutze ich. Für Henry ist das normal. Er prügelt sich so oft und schlägt häufig auch einfach auf Unschuldige, wie zum Beispiel auf mich, ein. Aber Tobias? Er ist zwar immer dabei, aber die direkten Gewalttaten überlässt er immer den anderen. Nur auf mich prügelt er immer ein. Warum hasst er mich nur so? Ich hab ihm doch gar nichts getan.

Betrübt drücke ich ein Kissen vor mein Gesicht und schreie laut hinein. Durch das fluffige Kissen wird die Lautstärke unterdrückt, aber trotzdem bin ich mir sicher, dass man es draußen gehört hat. Genau das ist aber meine Art, um mit Stress umzugehen. Schreien. Einfach alle Gefühle, negativ, positiv, Stress, Wut, sogar Freude, hineinlegen und dann alles was geht hinausschreien. Eve ist das inzwischen gewöhnt und auch für Lu und Till ist es nahezu normal. Falls es aber jemand anderes mitbekommt, könnte er mich möglicherweise für verrückt halten.

Vorsichtig nehme ich das Kissen wieder weg und lege es unter meinen Kopf. Nachdenke fällt einem deutlich leichter, wenn es gemütlich ist.

***

Nach einigen weiteren Minuten, die ich wirklich mit Nachdenken verbracht habe, ist Tobias immer noch nicht wieder zurück. Vielleicht sollte ich doch einmal nach ihm sehen, falls ihm irgendetwas passiert ist. Moment, warum kümmert mich das überhaupt? Ach ja, weil ich nett bin. Selbst zu Leuten, die mich verletzen. Da war ja meine schlechte Eigenschaft. Lu findet sie zwar gut, aber Till ist der Meinung, dass das total naiv ist, wo ich ihm auch zustimmen muss.

Mit einem leichten Ächzen erhebe ich mich und stehe kurzerhand vor dem Zelteingang. Ich schaue hoch und kneife direkt wieder die Augen zu. Warum ist die Sonne so verdammt hell? Drecksplanet.

Ich öffne meine Augen wieder und gucke mich um. Nichts von Tobias zu sehen. Genervt stöhne ich auf. Jetzt muss ich diesen Idioten auch noch suchen. Ich gehe einige Meter und überlege wo ich mich zurückziehen würde, wenn es mir schlecht ginge.
Ich drehe mich abrupt nach rechts und bewegen mich Richtung Wasser. Jeder würde dahin gehen.

Dort angekommen ist immer noch keine Spur von Tobias. Langsam gehe ich näher dorthin und drehe mich in unterschiedliche Richtungen. Und plötzlich sehe ich sie. Eine Gestalt, die am Ende des Stegs sitzt. Tobias!

Trotz Schmerzen beginne ich zu ihm zu laufen. Vielleicht braucht er ja wen zum Reden. Idiot, er braucht niemanden und erst recht nicht dich. Stimme aus dem Off: Maul halten. Dankeschön.

Am Steg angekommen, bewege ich mich mit einigermaßen lauten Schritten auf ihn zu. Tobias zu erschrecken, wäre in dieser Situation nicht unbedingt das Beste, was passieren könnte.

"Ein Wort und du liegst im Meer, verstanden?" Abrupt bleibe ich stehen. Das war echt eine scheiß Idee. Der kurze Gedanke wieder umzudrehen, schießt durch meinen Kopf, doch ich verwerfe es direkt wieder. Ich renne die schmerzvollen Meter jetzt nicht zurück ohne wenigstens irgendwas versucht zu haben.

Nach ein paar weiteren Schritten habe ich Tobias erreicht und lasse mich neben ihm nieder. Und so bleibt es erst einmal auch. Schweigend sehen wir auf das ruhige Meer hinaus. Kaum Wellen sind zu erkennen. Hoffentlich bleibt das die ganze Zeit so. Zum Schwimmen ist es zwar zu kalt, aber es ist deutlich entspannter auf ein ruhiges Meer zu schauen. Vielleicht kann man ja auch mal mit den Füßen ins Wasser.

Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf und lande irgendwann bei der Überlegung, ob es vielleicht tausende Meter unter der Meeresoberfläche Meerjungfrauen gibt. Cool wäre es schon. Das Meer ist so unentdeckt, da ist sicherlich so viel, was Menschen für unmöglich halten.

Eine Bewegung neben mir reißt mich aus meinen Überlegungen. Tobias wird scheinbar unruhig. "Wir sollten gehen. Wenn die anderen wieder da sind und wir weg ohne den Zettel richtig ausgefüllt zu haben, schieben mir deine Freunde irgendeine scheiße unter. Da habe ich echt keinen Bock drauf."

"Ich habe die Zettel mitgenommen. Wir können dann auch noch hier sitzen bleiben", sage ich und krame sie aus meinen Hosentaschen hervor. Unschlüssig sieht Tobias mich an, setzt sich letztendlich aber doch wieder neben mich und nimmt mir den Zettel aus der Hand.

Ich will gerade den Mund aufmachen, um ihm die nächste Frage zu stellen, aber er kommt mir zuvor.

"Mein Vater hat mich am Freitag geschlagen. Ich habe das Wochenende bei Henry verbracht. Der Freitag war dann der letzte Tag an dem ich mit Gewalt zu tun hatte."

A * N I G H T * I N * A * T E N T - BoyxBoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt