Kapitel 11

10.1K 483 143
                                    

Schockiert reiße ich meine Augen auf. Warum erzählt er mir so etwas persönliches? Nein, das tut nichts zur Sache. Leicht schüttle ich den Kopf.

"Warum...?", beginne ich, aber Tobias unterbricht mich direkt. "Nein, mehr werde ich dazu nicht sagen. Ich hab nur eine Bitte. Erzähle es keinem, ja?" Flehend sieht er mich an.

Ein kleines Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. Tobias hat mir gerade das perfekte Druckmittel geliefert. Ich würde es definitiv niemandem erzählen, aber die Information könnte sicherlich nützlich sein.

"Okay, ich werde es keinem sagen. Vertrau mir da. Im Gegenzug hätte ich aber auch eine Bitte." Und hier kommt der Nutzen zum Vorschein. "Verschone mich auf der restlichen Fahrt. Durch die Erfahrungen mit deinem Vater weißt du vielleicht wie sehr einen das fertig macht, wenn man Nachts vor Schmerzen nicht schlafen kann. Auch nur für die nächsten zwei Wochen, damit ich mit einem guten Gefühl meine Augen im Zelt schließen kann, ohne die Angst zu haben, dass ich nicht mehr aufwache."

Tobias schaut mich einen kurzen Moment an. Ich kann nicht erkennen, ob in seinem Blick Hass, Argwohn oder doch eine gewisse Sanftmut liegt.

"Gut", murmelt er leise und streckt mir seine Hand entgegen, welche ich direkt schüttle. "Ich weiß zwar nicht, was Henry dazu sagen wird, aber erklären kann ich es ihm sicherlich."

Ich nicke nur kurz und drehe mich dann wieder von ihm weg, um aufs Meer zu gucken. Zwar wirke ich gerade von außen sehr ruhig, aber in meinem Kopf drehen die Gedanken durch. Zwei Wochen ohne Mobbing von Tobias. Das ist schon einmal eine große Erleichterung.

Seufzend greift dieser neben mir wieder zu seinem Zettel mit den Fragen. Will er jetzt ernsthaft einfach weitermachen? Mein Kopf ist gerade gar nicht in der Lage normal zu denken.

"Die Fragen sind teilweise echt privater als ich dachte", murmelt Tobias leise. "Was interessiert es die Lehrer, was für eine Sexualität die Schüler haben? 90 Prozent werden sowieso Hetero aufschreiben und die restlichen 10 werden sicherlich lügen."

Leicht nicke ich. Auch andere Fragen wie "Hast du dich schon einmal selbst verletzt?" gehen meiner Meinung nach zu weit. "Okay, höre ich von dir ein gelogenes oder ein wahres Hetero", frage ich ihn schließlich breit grinsend. Doch Tobias guckt mich nur abwertend an. "Ein Wahres natürlich. Ich bin nicht so eine Schwuchtel." Ich seufze. Es geht wieder los.

"Dann schreib bei mir aber auf, dass ich eine 'Schwuchtel', wie du es so schön nennst, bin. Ist mir egal was die anderen denken. Ihr habt mich ja sowieso geoutet." Eine unangenehme Stille herrscht zwischen uns. Hat er ernsthaft erwartet, dass ich sage, dass ich hetero bin? Wohl kaum.

"Tut mir leid", sagt er leise. Fragend, aber auch etwas geschockt, sehe ich zu Tobias. "Es tut mir leid, dass wir dich geoutet haben. Mir ist erst vor kurzem klar geworden wie schwer so etwas ist und dass man selbst dazu bereit sein sollte."

Jetzt bin ich komplett verwirrt. Was ist denn heute mit ihn los? So einsichtig. "Ach, das stört mich nachträglich nicht so sehr. Ich habe wenigstens erkannt, wer meine echten Freunde sind und wer mich nur verarscht." Die vielen anderen negativen Seiten an der Geschichte lasse ich erst einmal weg. Wir gehen mal langsam vor. Vielleicht sieht er den restlichen Mist auch irgendwann ein.

"Nächste Frage", versuche ich das erneute Schweigen zu brechen. "Was war dein größter Verlust bisher?" Ach, eine tolle Frage. Nicht. "Als meine Katze gestorben ist. Sie war das wichtigste auf der Welt für mich und hat mich immer aus dem normalen Alltag herausgeholt, wenn es mir nicht gut ging. Ich werde nie wieder ein Tier finden können, welches ich so sehr liebe wie meine Katze. Aber genug von mir. Was war deiner?"

Wieder eine Information, die ich verarbeiten muss. Wie schlimm ist es denn bei ihm zu Hause, wenn eine Katze sein einziger Rückzugsort ist? Egal, nicht drüber nachdenken. Es ist seine Sache. Jetzt kommt erst einmal meine Geschichte.

"Also naja, ich schätze mal der größte Verlust war, als ich meine Eltern und meinen kleinen Bruder verloren habe. Und Attack on Titan hat mich auch sehr mitgenommen. Besonders als..." "Halt die Fresse, ich bin erst am Anfang der 2. Staffel", unterbricht mich Tobias direkt. Kurz lächle ich. Wie schnell man doch Leute findet, die ähnliche Serien schauen. Allerdings folgt darauf auch direkt wieder ein unangenehmes Schweigen, aber ich freue mich, dass er nicht weiter nachfragt.

***

Wir saßen lange schweigend nebeneinander bis sich Tobias plötzlich räuspert. "Darf ich fragen wie deine Eltern gestorben sind?" Zu früh gefreut. Kurz zögere ich, nicke aber dann und fange mit der kleinen Story an.

"Meine Schwester und ich waren in einem Feriencamp. Ich war glaube ich sieben Jahre alt zu dem Zeitpunkt. Auf jeden Fall sind wir nach dem Camp mit dem Bus wieder zurückgefahren und hätten eigentlich von unseren Eltern abgeholt werden sollen. Nur kamen sie nicht, weswegen wir dann Abends im Dunkeln nach Hause gehen mussten. Bevor wir an unserer Straße ankamen, haben wir noch darüber Witze gemacht, wieso sie nicht da waren.

Je näher wir dann aber unserem Haus kamen, umso lauter und unruhiger wurde es um uns. Wir waren schließlich am Anfang unserer Straße angekommen und haben nur Krankenwagen, Feuerwehr und andere Autos und Menschen, die vor unserem Haus standen, gesehen. Ich bin glaube ich nie so schnell gerannt in meinem Leben." Ich unterbreche meine Erzählung und lache traurig.

"Als wir dann schließlich da waren, haben wir gesehen, wie die Körper unserer Eltern aus dem abgebrannten Haus getragen wurden. Mein Bruder wurde nie gefunden. Man vermutet, dass er den Brand aus Versehen gelegt hat und dann direkt neben dem Brandherd verstorben ist.

Für meine Schwester und mich ist natürlich eine Welt zusammengebrochen und wir sind erst einmal zu meinen Großeltern gezogen, die nur ein paar Straßen weiter gewohnt haben. Meine Schwester hat dann die Schule und ihr Studium beendet, um sich zur Not finanziell um mich kümmern zu können.

Unsere Großeltern sind dann auch irgendwann gestorben, da sie schon sehr alt waren und haben uns das Haus, in dem wir jetzt wohnen, vererbt. Ich habe mich langsam daran gewöhnt, dass es nur meine Schwester und mich gibt und ich bin meinem persönlichen Schutzengel dankbar, dass ich an dem Tag nicht zu Hause war und Eve auch nicht. Nur dadurch können wir jetzt leben und unsere Träume verwirklichen. Dass meine Schulzeit dann so eine Höllenfahrt werden würde, konnte ich ja schlecht ahnen, aber es ist genau genommen nur ein Fliegenschiss zu meinem restlichen Leben und auch endlich bald vorbei."

Ich beende meine Erzählung mit einem leichten Lächeln und schaue aufs Meer hinaus. Plötzlich spüre ich, wie sich zwei starke Arme um mich legen.

A * N I G H T * I N * A * T E N T - BoyxBoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt