Kapitel 1

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Ich hetze zu meiner Wohnungstür und reiße sie in Eile auf. Sie stößt mit einem lauten Knall an die Wand. 

Ich habe sie gerade wieder zugezogen und will schon weiterstürmen, als mir plötzlich siedend heißt einfällt, dass ich meinen Rucksack vergessen habe. Mist! Verzweifelt durchsuche ich die viel zu vielen Taschen meiner Jacke nach dem Schlüssel. Mal wieder finde ich sie in der Letzten, was meine Laune nicht gerade bessert.

Wenigestens finde ich meinen Rucksack gleich darauf auf Anhieb, was mich bei all dem Chaos, das ich hier zurücklasse, sichtlich überrascht. Ich sprinte erneut auf den Flur, diesmal hoffentlich mit Allem, was ich für die nächsten zwei Wochen brauche.

Vor der Eingangstür wartet mein bestelltes Taxi schon seit über fünf Minuten darauf, endlich loszufahren. Es ist bereits kurz nach zwei und um Viertel nach fährt mein Zug ohne mich vom Gleis.

Der Taxilärm und meine Hektik werden meinen Nachbarn sicher wieder Gesprächsstoff für mindestens eine viertel Stunde Lästern geben, aber für die nächsten zwei Herbstwochen habe ich sowieso erstmal eine Auszeit von diesen Leuten. Das ganze Haus ist voll von Irren, die über jede Kleinigkeit herziehen, die sie "zufällig" beobachtet haben.

Sobald ich draußen bin, stoße ich einen erleichterten Seufzer aus, als erwarte mich ein Monat Urlaub an der Karibik. Doch leider müsste ich Jahre sparen, um mir diesen Luxus erlauben zu können. Zum Glück schickt mich mein Chef in letzter Zeit immer häufiger auf Dienstreise, weswegen ich diesem Schlangenhaus inzwischen fast regelmäßig entkommen kann. Wahrscheinlich will er sich von seinen anderen Kollegen einfach nicht trennen. Und diesen Montag ist es nun wieder soweit, ich darf meine Firma erstmals international in Moskau vertreten.

Ich bin erst relativ neu in meinem Job als Elektronikentwickler und muss deswegen auf jeden Wunsch hinarbeiten. Ganz im Gegensatz zu meinen ach so geschätzten Arbeitskollegen, die unter allem möglichen aber ganz sicher nicht unter Geldmangel leiden. Im Gegenteil, die meisten von ihnen besitzen eher viel zu viel davon. 

Sie machen allerdings auch keinen großen Hehl daraus, sondern präsentieren ihr kleines Vermögen jedem, der im Vorbeigehen einen Blick auf ihre riesige Gärten wirft, in denen sich Außenduschen, Hollywoodschaukeln, Swimmingpools und ganze- vor Kitsch nur so trotzdene -  Gartenzwergkolonien sammelen.

Jede Wette, dass dich deren kleinen Augen durch winzige Videokameras permanent fokussieren und sie im Haus sofort Alarm geben, wenn du ihnen auch nur ansatzweise zu nahekommst.

Zu meinem Bedauern sind aber viele meiner Kollegen schon jahrelang in der Firma und es gibt vergleichsweise nur wenige in meinem Alter, denen es finazniell ähnlich geht wie mir.

Denn unser Chef ist ganz offensichtlich sehr kritisch gegenüber meiner Generation und macht die Aufnahmebedingungen deswegen jedes Jahr extra schwer. Ich würde sagen, er trägt ein bisschen was von Miranda Priestly aus "Der Teufel trägt Prada" in sich. Wenigstens konnte ich mich bisher schon zehn Monate bei ihm halten.

Dieses Jahr ist jedoch allem Anschein nach wieder eine der überaus raren, großzügigen Phasen meines Chefs zu sein, in denen er ausnahmsweise mal mehr als nur eine Hand voll Leute in seinem Sitz in Hamburg einstellt. Wahrscheinlich fürchtet er insgeheim den Generationenwechsel, der ihm, wie auch dem alten Boss, bevorsteht, wenn er so weitermacht und hofft, ihn dadurch irgendwie ausgleichen zu können. Denn auch seine Lieblinge altern und müssen mal in Rente gehen. Dann wird er sie durch Jüngere ersetzten müssen oder ohne Arbeiter dastehen, was bei dieser, immer bekannter werdenden Firma sehr unwahrscheinlich ist.

Nur bisher hat er sich leider noch von Keinem trennen können. Sehr zu meinem Bedauern. Und solange er immer noch vergleichsweise wenige Leute einstellt, und diese immer noch sehr genau unter die Lupe nimmt, bleibt er für mich, und für die Leute, die in Zukunft vielleicht daran interessiert sind, mich einzustellen, immer noch Miranda Priestly.

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