"Wie hast du mich eigentlich gefunden?", stelle ich in die eintretende Stille hinein nun die Frage, die mir schon länger auf dem Herzen liegt.
"Auch, wenn Jane sich scheinbar bemüht hat, möglichst leise zu sein, hat sie mich trotzdem aufgeweckt. Ich habe mich sofort gefragt, was sie mitten in der Nacht in unserem Abteil macht, aber ich habe es in jedem Fall für das Beste gehalten, mich erstmal weiter schlafend zu stellen. Und, nun ja, der Grund ihres Besuches klang für einen Außenstehenden recht sonderbar, da wir hier ja nicht mal Netz haben. Und selbst wenn, woher sollte jemand die Telefonnummer des Zuges kennen? Aber mir war klar, dass du von einem dringenden Anruf mitten in der Nacht sicher beunruhigt bist.
Ich musste also damit rechnen, dass du dir darüber verständlicherweise keine allzu großen Gedanken machst. Mir kam das Ganze allerdings wie gesagt wirklich spanisch vor. Also bin ich, nachdem ihr aus dem Raum wart meinerseits aufgestanden und euch richtung Abteiltür gefolgt. Ich war gerade noch rechtzeitig im Flur, um zu sehen, wo sie dich hingebracht hat. Leider ist Jane dann auf mich aufmerksam geworden. Oder zumindest fast. Ich habe mich schnell wieder ins Abteilzurückgezogen und gewartet, bis sie verschwunden ist."
Bei diesen Worten erinnere ich mich wieder an das leise Geräusch, dass ich im Raum gehört habe, kurz bevor Jane gegangen ist. Das war dann also James. Allein die Vorstellung, dass er so kurz davor war, von Jane entdeckt zu werden, sorgt auf meinem Körper für Gänsehaut.
"Die Zeit habe ich dann gleich genutzt, um mir schnell noch wärmere Klamotten überzustreifen. Inzwischen war ich mir ziemlich sicher, dass etwas nicht stimmte. Sobald Jane weg war, habe ich nach der Tür im Flur gesucht, wo ich sie noch kurz zuvor gesehen habe, und der Schlüssel im Schloss war für mich schließlich der entscheidende Hinweis. Im Nachhinein wundert es mich ein bisschen, dass sie ihn dort hat stecken lassen, wenn sie doch die Wagontüren aufschließen musste." Er driftet kurz gedanklich ab, fängt sich dann aber schnell wieder. "Jedenfalls habe ich dich geholt, sobald sie außer Hörweite war. Den Rest der Geschichte kennst du ja."
Ich nicke und bewundere James einmal mehr für seine Kombinierfähigkeit und sein Geschick. "Danke nochmal."
"Kein Problem. Ich brauche doch meinen Watson für die Ermittlungen. Da kann ich dich unmöglich kampflos dem Feind überlassen." Ich schmunzele leicht und starre eine Weile einfach nur abwesend auf das Parkett vor mir.
"Und jetzt?", frage ich dann schließlich mit einem besorgten Blick an James gewandt.
"Was meinst du?"
"Na ja, wie geht es jetzt weiter? Was unternehmen wir? Wir müssen den anderen doch irgendwie helfen und sie vor Jane warnen! Mark und John zum Beispiel." Als ich die beiden Freunde erwähne, taucht in James Gesicht für einen Moment ein qualvoller Blick auf. Verdammt, das wollte ich nicht!
"Ja, ich weiß, darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach", erwidert er schließlich und seufzt dann leise. "Aber noch sind Jane und ihr Komplize wahrscheinlich mit suchen beschäftigt. Wenn wir ihren Worten Glauben schenken können und sie wirklich keine Anfängerin ist, dann lassen sie die anderen wahrscheinlich in Ruhe. So wichtig war Johns Erlebnis vorgestern Abend auch wieder nicht. Und morgen sind wir ja auch schon in Moskau. Dann wird sowieso die Polizei benachrichtigt.
Bis dahin müssen sie, wenn sie nicht gefasst werden wollen, alle Spuren beseitigt haben. Langweilig wird ihnen diese Nacht also wohl ganz sicher nicht. Außerdem geht es Jane im Moment anscheinend nur um dich, und, wenn sie schon in unserem Abteil war, auch um mich. Momentan ist es also noch eine Sache zwischen uns. Wir dürfen nichts überstürzen und am Ende noch den ganzen Zug in Gefahr bringen. Deswegen wollte ich auch in ein Lager und nicht in irgendein Abteil. Wir sollten vorerst möglichst niemanden mehr mit reinziehen."
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Fantasy"Das Leben ist wie eine Zugfahrt. Viele Menschen steigen ein. [...] Aber nur wenige fahren mit dir ans Ziel." - https://www.pinterest.de/pin/633387435049504/, 02.09.2022 Ein ganz normaler junger Erwachsener mit einem fast normalen Chef. Eine von B...