Kapitel 21

35 6 0
                                    


Ich fasse mich als erster wieder und nehme mich der verzweifelten Jenny an. "Du denkst jetzt wahrscheinlich, dass du die einzige bist, die dich versteht. Dass du allein bist mit deinem Elend. Aber das stimmt nicht. So komisch es auch klingen mag, ich weiß, wie du dich fühlst."

Meine eigenen Worte hören sich so fremd an. All die Jahre habe ich dieses Gefühl verdrängt. Doch jetzt, beim Anblick des kleinen Mädchens kommen all die Erinnerungen auf einmal wieder hoch. Sie hebt den Kopf und mustert mich überrascht.

Ich beginne langsam zu erzählen, um ihre Aufmerksamkeit nicht wieder zu verlieren.

"Vor ein paar Jahren, habe ich etwas Ähnliches erlebt. Du musst wissen, dass auch ich ohne Eltern aufgewachsen bin." Ich schlucke schwer. "Bis vor ein paar Jahren habe ich noch bei meinem Onkel und meiner Tante gelebt. Natürlich war ich damals nicht so jung wie du es jetzt bist. Und auch die Umstände waren anders. Aber du kannst mir glauben, dass auch ich am Boden zerstört war, als ich es erfahren habe." Ich lehne mich etwas zurück und schließe die Augen. Sofort taucht das Kopfkino vor meinem inneren Auge auf, dass früher Grundlage so vieler meiner Alpträume gewesen ist.

"Es war passierte kurz nach meinem elften Geburtstag. Meine Eltern hatten Hochzeitstag und mein Vater hat meine Mutter auf eine Reise in die Alpen eingeladen. Früher haben sie solche Ausflüge noch viel regelmäßiger gemacht. Ihnen lag die Natur wirklich sehr am Herzen. Mein Onkel und meine Tante, die selber keine Kinder hatten, haben sich sofort bereiterklärt, vorüber gehend auf mich aufzupassen. Ich kann mich noch genau an alle Details des sonnigen Freitagnachmittags erinnern, an dem sie sich von mir verabschiedet haben. Mir war nicht im Entferntesten klar, dass ich sie nie wiedersehen werde."

Ich lege eine kurze Pause ein, um mich zu sammeln. "Sie haben sich nicht gemeldet und ich habe mir erstmal auch nichts dabei gedacht. Es war für mich nur verständlich, dass sie als so fürsorgliche Eltern, die sich rund um die Uhr um mich kümmern und für mich da sind, eben einfach Mal eine Auszeit brauchen. Allerdings waren sie dann 2 Tage später auch nicht auf dem Bahnsteig, wo wir auf sie gewartet haben. Zuerst dachten wir noch, dass sie den Zug verpasst haben und deswegen einfach nur verspätet ankommen würden. Aber als sie dann am nächsten Morgen, nach einer für mich fast schlaflosen Nacht immer noch nicht aufgetaucht sind, konnten auch meine Verwandten nicht mehr leugnen, dass hier etwas nicht stimmte. Sobald weitere 24 Stunden vorbei waren, schalteten wir die Polizei ein."

Ich kann einen Seufzer nicht unterdrücken. "Eine Woche habe ich vergebens auf ihre Rückkehr gewartet. Doch weit und breit keine Spur von ihnen. Irgendwann musste ich mir selbst eingestehen, dass sie nicht mehr zurückkommen werden." Tränen glitzern in meinen nun wieder geöffneten Augen. Ich hoffe inständig, dass es jetzt wenigstens Jenny besser geht. Langsam wende ich ihr meinen Blick zu. Ihr Mund hat sich ein Stück weit geöffnet. Schnell schließt sie ihn wieder und lässt ihren Blick nachdenklich durch ihre Umgebung schweifen. Vielleicht hilft ihr diese Erfahrung, über ihr eigenes Schicksal so gut es geht hinwegzukommen, so wie auch ich irgendwie damit fertig geworden bin.

James rutscht ein Stück näher an mich heran und lässt seinen Arm vorsichtig auf meiner Schulter sinken. Die Berührung sorgt in meinen Fingern für ein leichtes Prickeln, dass sich in meinem ganzen Körper ausbreitet. "Das mit deiner Familie tut mir wirklich leid", flüstert er mir mitfühlend zu.

"Das muss es nicht." Ich zwinge mich zu einem müden Lächeln. "Ich wollte mich nicht in den Vordergrund drängen oder so, es ist nur... na ja, ich hätte sie überreden können, hier zu bleiben. Dann würden sie jetzt vielleicht noch leben. Ich hätte sie umstimmen können." Meine Stimme ist nicht viel mehr als ein leises Wispern. "Diese Tatsache verlässt mich einfach nicht. " Ich stocke und spreche das Unvermeidliche aus. "Ich bin in gewisser Weise für den Tod meiner Eltern verantwortlich."

Nächster Halt: NachweltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt