Die unterdrückte Panik, die im Speisesaal herrscht, ist praktisch spürbar. Falls Lucy und die anderen konsequent waren, weiß mittlerweile jeder hier von dem sonderbaren Zwischenfall. In den meisten Gesichtern spiegeln sich Angst und Beunruhigung wider, teilweise mit blankem Entsetzen vermischt. Im Vergleich zu gestern ist der Raum wesentlich leerer. Offenbar haben sich relativ viele Leute dazu entschieden, vorerst in ihren Kabinen zu bleiben.
Ein leises Tuscheln hat sich als allgemeines Hintergrundgeräusch eingestellt. Nichts im Vergleich zu den angeregten, ziemlich heiteren Gesprächen des vergangenen Tages. Es scheint, als habe man über alles einen seidenen, grauen Schleier ausgebreitet, der mit den intensiven Geräuschen auch die noch vor wenigen Stunden so gute Stimmung verschluckt hat.
Nur noch eine Nacht und ein Vormittag liegen zwischen uns und unserem Ziel. Die Vorfreude auf die kommende Woche im Ausland ist verschwunden, und die angsterfüllten Gefühle und Gedanken der anderen scheinen mit der Zeit auch immer stärkeren Einfluss auf meine eigenen Emotionen zu haben.
Wenn ich doch bloß Internet hätte! Im Vergleich zu der hysterischen Frau, die sofort die Polizei rufen wollte, würde ich aber wahrscheinlich nicht einmal Charlie etwas erzählen. Damit würde ich sie nur unnötig beunruhigen. Dennoch würde ich mich zumindest sicherer fühlen. Ich wüsste, dass ich im äußersten Notfall Hilfe holen könnte. Dass ich nicht blindlings und total unvorbereitet sowie unbewaffnet in das Ungewisse vor mir blicken müsste. Wieder kehren meine Gedanken zu diesen sonderbaren Träumen zurück.
Langsam und gedankenverloren lasse ich meinen Blick weiter durch den Raum schweifen. Von dem Vermissten keine Spur. Obwohl die unscheinbare Uhr über der Theke schon kurz nach sechs anzeigt, ist die Essensausgabe immer noch geschlossen. Eigentlich wollten wir uns erst in zwanzig Minuten mit Mark und John treffen, doch nur so können James und ich sicher sein, dass wir nichts Wichtiges verpassen. Wir haben uns auch nicht an unserem Stammplatz niedergelassen, sondern diesmal einen Tisch ausgewählt, der noch näher am Eingang, aber trotzdem eher abseits liegt, sodass wir die Leute besser beobachten können, ohne zu stark aufzufallen.
Die meisten haben ihre Blicke aber ohnehin gesengt und spielen nervös mit irgendeinem Teil ihrer Kleidung. Keinem scheint es so wirklich ums Essen zu gehen. Ich schiele mit geneigtem Kopf und möglichst unauffällig zu ihnen hinüber. Es soll schließlich nicht gleich jeder wissen, dass wir nach etwas Ungewöhnlichem Ausschau halten. Ich erinnere mich wieder an James Theorie, dass der Mann sich getarnt haben könnte.
Vorsichtig mustere ich die Menschen noch genauer. Schätzungsweise fünfundvierzig Leute, also weniger als die Hälfte der Mitreisenden sitzen an den Tischen verteilt. Zu blöd, dass sie die Gesichter alle geneigt haben. Als hätten sie sich tatsächlich alle gegen uns verschworen. Für Perücken würde dieser Plan allerdings eher nicht sprechen. Angestrengt versuche ich, mich mehr zu fokussieren und mich nicht von der alles umhüllenden Angst ergreifen zu lassen. Trotzdem scheint weiterhin alles "normal" zu sein. So normal es in dieser Situation eben sein kann.
"Hast du schon etwas Besonderes bemerkt?", fragt mich James nach ein paar Minuten Schweigen im Flüsterton. Da sich so gut wie jeder in dieser Lautstärke unterhält, kann ich ihn dennoch gut verstehen.
"Nein, mir ist nichts aufgefallen. Wie sieht es bei dir aus?"
"Geht mir genauso. Keiner sticht heraus. Soweit ich das von hier aus beurteilen kann, trägt auch keiner eine Perücke. Zumindest keine billige."
"Dann ist der Mann also wirklich nicht hier."
"Das würde ich nicht hundertprozentig bejahen. Mit genug Geld und Übung kann man aus jeder Maus einen Elefanten machen. Oder eher aus jedem Elefanten eine Maus. So, wie der gestern rumgepöbelt hat, ist der Mann, wenn es ums Thema Höflichkeit geht, wohl eher ein Elefant im Porzellanladen."
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Fantasy"Das Leben ist wie eine Zugfahrt. Viele Menschen steigen ein. [...] Aber nur wenige fahren mit dir ans Ziel." - https://www.pinterest.de/pin/633387435049504/, 02.09.2022 Ein ganz normaler junger Erwachsener mit einem fast normalen Chef. Eine von B...