Geistesgegenwärtig reiße ich die Arme gen Boden, zumindest hoffe ich, dass da ein Boden ist, um mich abzufangen. Hinter mir spüre ich etwas Hartes. Vorsichtig stoße ich mich daran ab und bemühe mich, wieder in die Senkrechte zu kommen. Eilig drehe ich mich um und stehe einer blondhaarigen Frau gegenüber.
"Alles gut bei Ihnen?", erkundigt sie sich besorgt.
"Ja, äh...Danke", antworte ich und räuspere mich betreten, während sie mir schon ihre Hand entgegenstreckt. Ich bringe ein verwirrtes Lächeln hervor und schüttele die freie Hand.
"Ich bin übrigens Jane." Die Frau legt eine kurze Pause ein und scheint nach den passenden Worten zu suchen. "So etwas, wie die Technikerin hier an Bord."
"So etwas, wie?", erkundige ich mich und bemühe mich, mir meine Neugier nicht anmerken zu lassen.
"Ja, das ist ein wenig komplizierter. Aber wollen Sie nicht erstmal reinkommen, Herr, äh..."
"Swane. Rob Swane", antworte ich schnell. Endlich weicht sie ein Stück in den Gang aus, sodass ich in den Flur betreten kann, der mir im Vergleich zu draußen praktisch wie eine Sauna vorkommt.
"Darf man fragen, warum Sie sich so lange draußen aufgehalten haben?", erkundigt sie sich mit leicht hochgezogener Augenbraue und umgeht damit die nähere Beantwortung meiner Frage.
"Nun, äh.... Die Tür ging nicht auf. Kann es sein, dass sie noch abgeschlossen war?"
Jane runzelt die Stirn. "Das ist unmöglich. Aber Sie müssen immer Bedenken, dass der WInd draußen die Tür relativ stark zudrücken kann."
Ich nicke. Das ist zwar eine ziemlich logische Erklärung, lässt mich vor Jane allerdings wie ein Schwächling dastehen. "Ja, das ergibt Sinn." Eine kurze Gesprächspause entsteht und ich suche krampfhaft nach einem anderen Gesprächsthema. Meine Augen streifen über das dunkle Holz zu meinen Füßen. "Ich wusste gar nicht, dass die älteren Modelle noch in Betrieb sind", lenke ich von dieser peinlichen Situation ab.
Für einen kurzen Moment wirkt Jane irritiert, doch sie fängt sich relativ schnell wieder und setzt ihr freundliches Lächeln auf.
"So alt ist der Zug nun auch wieder nicht. Er wurde gerade erst gewartet und ist absolut sicher. Diese Züge haben in den Augen vieler ihre besten Zeiten hinter sich. Aber in den neueren Exemplaren gibt es einfach immer weniger Platz, immer weniger Komfort. Statt in große Kabinen, etc. investieren die Unternehmer in äußere, unwichtige Sachen. Ich jedenfalls habe noch von keinem neuen Zug gehört, der sowohl ein Café als auch ein Bordrestaurant, sowie zusätzliche Aufenthaltskabinen und Einzelkabinen in der ersten Klasse hat. So einen Luxus gibt es eben nur hier."
Ich nicke etwas überwältigt von ihrem Engagement. Gegen diese Frau möchte ich wirklich nicht debattieren müssen. Luxus klingt eigentlich so gar nicht nach meinem Chef. Aber vielleicht wird Herr Rubrijk mit den Jahren einfach großzügiger. Es geschehen ja bekanntlich noch Zeichen und Wunder. Ich spiele mit dem kleinen Schlüssel in meiner Hand. "Wissen Sie denn, wie viele Passagiere dieser Zug hat?", erkundige ich mich weiter.
"Einundneunzig, davon 20 erster Klasse. Gibt es einen speziellen Grund für diese Frage?"
"Mir wurde die Kabine 365 zugewiesen und ich frage mich einfach, ob es nicht ein bisschen voll werden würde bei den Mahlzeiten, wenn jedes Abteil genutzt werden wird."
Jane schmunzelt. "Der Zug besteht aus zwei Abteilwagons, die jeweils 45 Personen beherbergen. Die Räume sind von 280 bis 370 alle besetzt. Die Zahlen darunter gibt es auf diesem Zug gar nicht. Sie brauchen sich also keine Sorgen wegen Überfüllung zu machen. Haben Sie sonst noch Fragen bezüglich der Reise? "
"Äh...nein, das war alles. Danke." Kaum habe ich meinen Satz beendet, dreht sich Jane mit einem letzten Lächeln um, zieht die Tür problemlos auf und verschwindet nach draußen.
Irgendwie beeindruckend...
Rob, ermahne ich mich sofort in Gedanken, du hast bereits eine Freundin! Außerdem ist es vollkommen normal, nicht bei allem gleich durchzudrehen. Schnell wende ich mich wieder der Suche nach meinem Abteil zu. Ich brauche dringend Ablenkung. Ganz hinten finde ich schließlich meine Nummer. Sie steht allerdings nicht allein, sondern unter der 366. Na toll, stöhne ich innerlich. Privatsphäre Ade. Doch damit werde ich mich wohl abfinden müssen.
Ein kalter Luftstoß strömt mir entgegen, als ich die Tür öffne. Für einen kurzen Moment befürchte ich, dass es dahinter schon wieder ins Freie geht. Aber dann fällt mein Blick auf das helle Hochbett im dunkeln Raum und auch auf das kleine, offene Fenster, das sich neben dem Kopfende des oberen Nachtlagers befindet. Daher also der kühle Wind. Langsam trete ich näher in das kleine Zimmer.
Hinter mir fällt die Tür wieder krachend ins Schloss. Unweigerlich zucke ich zusammen. Ich sollte unbedingt das Fenster schließen, sonst mache ich hier wohlmöglich noch mehr Lärm. Gespannt betrachte ich die Kabine. Wie zu erwarten ist sie ziemlich klein. Ich hänge meine Sachen an den Mantelhalter und gehe weiter ins Zimmer. Vor dem Bett bleibe ich stehen. Es gibt noch keine Anzeichen dafür, dass derjenige, der sich die Kabine mit mir teilt, schon da war. Das bedeutet freie Wahl und vorerst ein wenig Erholung für mich. Sehnsüchtig streife ich mit den Füßen meine Schuhe ab und steige die Eisenleiter hoch.
Bevor ich mich in die weiche Matratze fallen lasse, schiebe ich das Fenster wieder zurück in den Rahmen. Endlich kehrt eine angenehme Ruhe ein. Ich stöhne dankbar und lehne mich gegen das weiße Kopfkissen. Für einen kurzen Moment schließe ich nochmal die Augen. Plötzlich taucht ein Frauengesicht mit blondem Pferdeschwanz in der nun allumfassenden Dunkelheit auf. Jane! Schlagartig reiße ich die Augen auf, aber bis auf mir ist das Abteil weiterhin leer.
Irritiert und ein bisschen beunruhigt lehne ich mich wieder zurück. Nur, um dieses Mal eine freundlich lächelnde Lucy zu sehen, die mir verschmitzt zuzwinkert.
Wow, seufze ich verträumt.
Entsetzt richte ich mich auf. Habe ich das gerade wirklich gedacht? Bin ich eigentlich bescheuert? Immer noch geschockt starre ich in den kleinen Spiegel gegenüber von mir, der über meinem Mantel an der Wand hängt. Ich kenne diese beiden Frauen seit nicht einmal einer halben Stunde, und sie spuken mir jetzt schon die ganze Zeit durch den Kopf! Was bin ich nur für ein Idiot?
Krampfhaft lenke ich mein Bewusstsein in Richtung Charlie, meiner Freundin, die gerade eine kleine Europareise macht, bevor sie nach jahrelangem Jurastudium schließlich anfängt, zu arbeiten. Unwillkürlich kehrt meine gute Stimmung zurück. Ob sie mir geschrieben hat? Erwartungsvoll ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und fahre es hoch. Kaum ist es entsperrt, werden mir auch schon zahlreiche Nachrichten angezeigt, die mir die Sicht auf meinen Hintergrund - ein Bild von meiner Freundin und ihrem Welpen Puppy – versperren. Oh Mann, denke ich, man kann aber auch keine Sekunde offline sein. Leider kommen die meisten What's App oft von allen möglichen und unmöglichen Leuten und natürlich nicht von denen, von denen man tatsächlich etwas empfangen will. Genervt öffne ich das Programm und lese mich durch den Schwall an Nachrichten, der mir seit gestern Abend gesendet wurde.
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Fantasy"Das Leben ist wie eine Zugfahrt. Viele Menschen steigen ein. [...] Aber nur wenige fahren mit dir ans Ziel." - https://www.pinterest.de/pin/633387435049504/, 02.09.2022 Ein ganz normaler junger Erwachsener mit einem fast normalen Chef. Eine von B...