6. Kapitel

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Marie

Als ich am nächsten Morgen wach werde liegt Jona noch tief schlafend neben mir. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, wir müssten in ein paar Minuten aufstehen. Ich fühle mich aber noch so müde und erschöpft. Obwohl ich abends so schnell eingeschlafen bin, habe ich mich die ganze Nacht herumgewälzt. Ich bin zig mal aufgewacht und habe mich von einer Seite auf die andere gedreht. Heute muss ich erst nachmittags arbeiten. Mittochs morgens ist immer der Termin bei meiner Therapeutin. Eigentlich sollte ich mich freuen, immerhin hat gestern die Ablenkung so gut funktioniert und ich habe endlich mit meinem Bild begonnen. Aber ich verspüre nicht ansatzweise das Bedürfnis, ihr davon zu erzählen. Am liebsten würde ich einfach liegen bleiben. Aber das geht natürlich nicht, denn Jona muss in den Kindergarten. Ich merke wie niedergeschlagen ich bin. Ob das an den Gesprächen gestern liegt?

Ich weiß, ich müsste aufstehen, aber ich schaffe es einfach nicht. Den piependen Wecker stelle ich noch einmal auf schlummern. Die zehn Minuten mehr machen dann auch keinen Unterschied. Bei dem Gedanken daran, was heute alles ansteht möchte ich am liebsten die Decke über den Kopf ziehen. Ich verabscheue mich selbst für diese Lethargie.

Als der Wecker das zweite Mal piept wird auch Jona wach. Jetzt habe ich keine Wahl mehr. Gut so, ruft das kleine Teufelchen auf meiner Schulter. Ich zwinge mich, mich hinzusetzen und tief durchzuatmen. Jona schlingt seine Ärmchen um meinen Hals und lässt sich von mir ins Badezimmer tragen. Am Besten nicht weiter drüber nachdenken und einfach der Routine folgen. Wir machen uns fertig. Ich höre Jona zu, wie er vor sich hinplappert. Zum Glück scheint er nicht zu merken, dass ich nicht besonders gesprächig bin heute morgen. Als wir nach unten gehen muss ich mich mehr zusammenreißen. Ich setze ein Lächeln auf und mache mich dann daran Frühstück zu machen. Wir frühstücken alle gemeinsam. Das geht mir heute morgen schwer gegen den Strich. Mein Papa drückt mir einen Kuss auf die Wange. Das lässt mein Lächeln für einen Moment echt werden.

„Möchtest du nichts Essen heute morgen?", fragt er mich.

Ich schüttele den Kopf, sage aber nichts dazu. Zum Glück kommentiert er das nicht weiter. Ich sehe wie meine Eltern sich über meinen Kopf einen Blick zuwerfen. Ich versuche mich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und nippe weiter an meinem Tee. Wie immer stehe ich danach auf, um Jonas zweites Frühstück für den Kindergarten fertig zu machen. Einen Handgriff nach dem Nächsten. Kurz mit meinen Eltern den Tagesablauf durchgehen. Meine Mama holt heute Jona ab, weil ich im Laden bin.

Den Weg zum Kindergarten gehen wir zu Fuß. Heute morgen ist es noch angenehm frisch, aber es verspricht ein schöner, warmer Tag zu werden. Ich versuche die Umgebung in mich aufzunehmen. Jonas Hand in meiner fühlt sich vertraut und warm an. Im Kindergarten verabschiede ich ein glückliches Kind. Ben hat ihn schon sehnlichst erwartet. Der Rückweg für mich allein ist schön. Heute werde ich das Fahrrad zu meinem Termin nehmen, dann habe ich noch ein wenig Bewegung und frische Luft.

Zu Hause habe ich noch ein wenig Zeit und nehme mir einen Moment um das Bild von gestern Abend zu betrachten. Im hellen Tageslicht wirkt es noch einmal ganz anders. Die Farbtöne, übereinander und ineinander vermalt, ergeben eine satte Fläche. Tränenblau. Das passt. Es ist als würde ich in meinen Tränen versinken. Besonders heute.

Meinen Pa hinter mir bemerke ich erst, als er sich leise räuspert. Ich zucke zusammen.

„Tut mir leid Mariechen. Ich wollte dich nicht erschrecken. Du hast wieder angefangen zu malen?", fragt er erstaunt.

Ich nicke: „Dr. Hartmann meinte, ich solle einen Weg finden meine Gefühle nach außen zu transportieren", ich ahme ihren leicht elitären Tonfall nach. Mein Papa schmunzelt. Er kennt Dr. Hartmann von mehreren gemeinsamen Sitzungen. „Tagebuch schreiben ist einfach nicht mein Ding", ergänze ich.

Funkengelb auf TränenblauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt