Kapitel 6

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  Ein zerfetztes Hemd, 'ne dunkle Hose mit Löchern und keine Schuhe. Der Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite wirkt wie der Apfel in einem Süßigkeitenregal. Gierig starrt er auf die noch leuchtende Laterne vor mir, die dem dunklen Eingang der Eisdiele eine gewisse Wärme verleiht. Ich denke für einen Moment nach, bevor ich versuche ihn zu mir rüber zu locken, er meine Handbewegungen jedoch ignoriert. Das gelbe Licht hat ihn in den Bann gezogen. Es ist hoffnungslos, er ist verzaubert. 

 Schließlich rappele ich mich auf, kralle mich mit einer Hand an dem weichen Material der Decke fest und nehme in die andere die Laterne. Die Menschenmassen lassen mich beinahe verschwinden, aber selbst inmitten all den Weihnachtsbeleuchtungen finden seine Augen nur das gelbe Muster.  

  Als ich ihm näher komme, fällt mir zuerst die nun noch höher herausragende Größe des Firmengebäudes auf und mir wird beim Hochschauen schwindelig. Dann sehe ich blaue, zitternde Lippen, die mühevoll von Zähnen gezähmt werden, sodass sie an einigen Stellen bereits angefangen haben zu bluten. Aber besonders seine Füße, die sich einfach so auf dem kalten Asphalt befinden, ohne jeglichen Schutz, werden von mir unter die Lupe genommen. Sie sind blass und bewegen sich kein einziges Stück, als hätte ihnen etwas das Leben entzogen.

   Sofort reiße ich die Decke von mir und lege sie über seine Beine. Erst als ich mich zu ihm setze, bemerkt er meine Anwesenheit. Ich stelle die Laterne neben ihm ab und schaue ab und zu rüber zu meiner Brötchentüte und dem leeren Pappbecher, damit ja niemand in Versuchung gerät, die wenigen Sachen, die ich besitze, in den Müll zu schmeißen.

"Was ist mit deinen Füßen passiert?", frage ich den Mann vorsichtig, der kurze Zeit später zu mir hoch blickt.

"Normalerweise sprechen mich Leute wie du mit "Na, was war dein Grund" an, aber ich schätze ein wenig Abwechslung tut jedem mal gut.", schmunzelt er. "Um deine Frage zu beantworten; Ich weiß es nicht. Seitdem ich hier sitze, spüre ich von meinen Knien abwärts meinen Körper nicht mehr." Er hebt meine dunkelrote Decke an und dann seine durchlöcherte Hose. Der Anblick seiner blauen, leblosen Beine bereitet mir ernste Sorgen.

"Wie lange wartest du denn schon? Was ist passiert?"

"Vor ein paar Stunden haben Joe und ich einen Hunderter auf der Straße gefunden. Er wollte uns davon Decken, eine warme Mahlzeit und Trinken kaufen gehen." Ich habe noch nie einen Hunderter zu Gesicht bekommen.

"Versuchst du mir gerade zu sagen, dass du hier seit Stunden ohne Schuhe im kalten Schnee herumstolzierst?" Ich kann mir denken, dass dieser Joe einfach mit dem Geld abgehauen ist. Leider muss ich immer wieder miterleben, was für falsche Menschen es in dieser Stadt gibt. Ratlos  versuche ich den Mann zu beruhigen.

"Und was ist dein Grund?"

"Meine Eltern lebten schon auf der Straße. Ich denke, für mich standen einfach nicht genug Türen offen..." Gott, morgen werde ich das erste Weihnachten alleine verbringen... "Birdie, ich heiße Birdie.!"

"Alf, aber du kannst mich Alfie nennen, wenn du auf Reime stehst." Birdie...Alfie..., er hat recht. "Du wohnst also in der Eisdiele, Birdie?"

"Vor der Eisdiele, ja." Unsere Blicke wandern zu meinem kleinen, provisorischen Lager. "Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen, Alfie?" Ich stehe auf Reime.

"Ist bestimmt schon eine Weile her, Birdie." Die Art, wie er in jedem Satz meinen Namen erwähnt, schmeichelt mir. Als wäre mein Name für einen kurzen Moment nennenswert.

"Ich hole dir schnell ein Brötchen aus meiner Tüte, auch wenn es das letzte ist. Du brauchst etwas zu essen, Alfie. Und danach versuche ich eine Lösung wegen deinem Bein-Problem zu finden."

  Gesagt, getan! Als ich mich zu der Tüte runter beuge, läuten die wilden Autohupen in meinen Ohren und ich drehe mich erschrocken um. Ja, in London ist es laut, aber selbst im Weihnachtsstress, habe ich nie so viele Hupen auf einmal hupen hören. Neugierig verfolge ich die Reihe an Autos, die vor der Firma und bei einem riesigen Laster stoppt. Der Laster kommt mir bekannt vor, als hätte ich ihn schon mal gesehen. Ich bin noch nie auf einem Rock-Konzert gewesen, aber ich bin mir sicher, dass es dort mindestens genauso sehr in den Ohren schmerzen muss! Immerhin muss ich jetzt nicht mehr an meine erste Befürchtung denken, dass Alfie versucht mir kriechend auf die andere Straßenseite zu folgen. Jedoch ist dieser blöde Laster im Weg, ich kann ihn nicht sehen...

 Mit der Tüte in meiner Hand sprinte ich über den Zebrastreifen zu Alfie, der, wie zuvor, auf dem Boden vor der Firma sitzt. Aber ich werde abrupt langsamer, als ich erkenne, wer vor ihm steht. Der Anzugträger, der Sohn, der kältere Winterwind, der...der...was macht er denn hier? Wieso sitzt er in keinem Flieger?!

  "Wir müssen sie bitten, ihren Platz zu räumen!", fordert er Alfie mit einer Stimme auf, die mir eine Gänsehaut bereitet. Ich vergesse ganz und gar, dass ich Alfie in diesem Moment verteidigen müsste, aber ich denke sogar zuerst ans Fliehen, als mich diesem großen, mächtigen Mann, dessen Augen eine Eiszeit um mich herum und in mir auslösen, gegenüber zu stellen.

  Aber als ich Alfie dort so hilflos, so eingeschüchtert in meine dunkelrote Decke sitzen sehe, fühle ich mich, als würde ich mich selbst hintergehen. So hast du noch nie gehandelt, Birdie! Ich war immer da, immer bereit, um zu helfen. Zudem ist es sowieso zu spät, da mich der Anzugträger und Alfie längst bemerkt haben, da ich nur wenige Meter von ihnen entfernt wie angewurzelt auf dem Asphalt stehe.

"Noch jemand von seiner Sorte...", murmelt der Typ in seinen Schaal, aber unsere Blicke treffen sich nur für einen kurzen Moment. "Bitte stehen sie auf, wir müssen hier einige Baumaßnahmen durchführen!", erklärte Mr.Hamilton & Sons mit genervtem Blick.

"Ticken sie noch ganz?! Dieser Mann kann nicht einfach so aufstehen!", platzt es aus mir heraus und ich wette, dass mein Gesicht vor Wut so rot wie eine Tomate ist.

"Gibt es ein Problem?" Seine Augenbrauen heben sich spöttisch. "Ich denke es gibt noch viele weitere Gebäude, vor denen sie sich niederlassen können." Ich kann meinen Ohren kaum trauen, wäre da nicht dieser Anzug, der schicke Schal und das erhobene Kinn. Scheißkerl!

"Sehr wohl gibt es hier ein Problem! Dieser Mann kann seine Beine seit einigen Stunden nicht mehr bewegen!" Die erhobenen Augenbrauen senken sich zu einem Stirnrunzeln und es herrscht eine langanhaltene Stille. Alfie sagt kein Wort, starrt nur die erloschene Laterne an, die neben seinen reglosen Beinen steht.

  Ich will Hamilton wegstoßen, als er sich zu Alfie herab kniet, aber als ich die Sorge in seinen sonst so kühlen Augen sehe, wird mir klar, dass er es vielleicht zur Abwechslung mal gut mit ihm meint.

"Wie lange spüren sie ihre Beine nicht mehr?"

"Seit ein paar Stunden." Es sind wahrscheinlich die ersten paar Worte, die Alfie mit dem Anzugträger gewechselt hat.

 Auch ich knie mich wieder zu Alfie, als er seine Beine dem Mann präsentiert. Die langen Finger des Anzugträgers fahren über die weiche, dunkelrote Decke, bevor er sie wieder fallen lässt und inne hält.

"Sie müssen unmittelbar in ein Krankenhaus, oder der blockierte Blutkreislauf wird ihnen das Leben kosten." Der ernste Ton in seiner Stimme klingt so herrisch und...dominant. Anzugträger eben. Aber irgendwie kann ich nicht anders und verfolge jede seiner Bewegungen. Ich denke gar nicht daran, wie froh ich eigentlich bin, dass Alfie geholfen wird, oder dass ich den Anzugträger dazu gebracht habe, sich um ihn zu kümmern...Auch wenn ich mich dafür hasse, ich kann mein Starren nicht unterbrechen.

"Was habe ich schon groß zu verlieren...", murmelt Alfie und es ist als würde mir mein Herz stehen bleiben.

 Aber bevor ich etwas sagen kann, meldet sich der Anzugträger zu Wort, was mich hoffnungsvoll aufatmen lässt.

"Ich werde sie fahren."


Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt