Figurengestaltung: Lebst du noch oder wohnst du schon?

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Ich hatte jetzt meine Kekse und in der Luft hängt mein Versprechen an euch, Rolle und Identität auseinander zu klamüsern. Aber wo ist da der Unterschied und wieso findet die schrullige Sookie das so wichtig? Also: Holt euch eine Tasse Tee, denn um mich kurzzufassen muss ich wie immer ein bisschen weiter ausholen!

Es gibt zahllose Tipps und Tools, um die Figurengestaltung beim Schreiben zu erleichtern. Bestimmt habt ihr Schreibratgeber im Regal, die euch mit Schritt-für-Schritt-Anleitungen durch diesen magischen Prozess führen: lebendige Romanfiguren zu entwickeln. Ihr könnt euch zum Beispiel Listen darüber anlegen, welche Augenfarbe die einzelnen Charaktere haben. Das kann sogar extrem nützlich sein, wenn man Autor ist. Ich bin selbst beim Lesen auch schon über Romane gestolpert, bei denen ich kurz zuckte, um dann zurückzublättern. Hä? Bin ich blöd? Ich war doch sicher, dass der mysteriöse Ritter (ja, auch ich habe eine Weile Mainstream-Ritterschmonzetten verschlungen!) schiefergraue Augen hatte. Wieso sieht er jetzt das erbebende Burgfräulein aus seinen stahlblauen Augen durchdringend an?

Ganz einfach, weil der arme Autor sich vertüdelt hat! Weil er unter Zeitdruck sein Wortsoll erfüllen musste, der Lektor wartet, der Drucker schmeißt schon mal die Maschinen an, das Ding muss raus! Da kann das passieren. Wer darüber jetzt den Kopf schüttelt, dem sei das Kapitel »Spaß mit Fehlern« ans Herz gelegt. Veröffentlichungsdruck, Betriebsblindheit und Co. können uns einfach manchmal ein Bein stellen.

Hinzu kommt, dass sich bei wirklich kreativen Menschen das Gehirn einfach irgendwann abschaltet, wenn es Massenware produzieren muss, weil es sich langweilt. Das arme Hirn. Du weißt, dass du diesen Zustand erreicht hast, wenn du ein Kapitel zwanzigmal umschreibst, weil du fest entschlossen bist, auch wirklich jeden Schreibtipp darin unterzubringen und irgendwann völlig das Gefühl dafür verlierst. Das hat einen ähnlichen Effekt, wie Nutella mit dem Löffel zu essen. Der erste Löffel schmeckt nach mehr, der zweite ist dann richtig geil, aber wenn du dreimal am Tag Nutella als Hauptmahlzeit bekommst, wir deine Zunge irgendwann so nutellablind, dass du da nur noch irgendwas in dich rein schaufelst, ohne es zu genießen.

Wir wollen aber nicht schreiben wie ausgebrannte Brötchen-Autoren unter Zeitdruck, wir wollen Schriftsteller sein. Wir wollen genießen. Und dazu gehört Lebendigkeit. Dazu gehört, dass du in deine Figuren verliebt bist und ständig an sie denkst. Dazu gehört, dass du dich ständig in Gedanken mit ihnen unterhältst und dass du fünftausend Details über sie weißt, für die in deinen Büchern gar kein Platz ist. Niemand wird deine Figuren jemals so gut kennenlernen, wie du es tust. Und wenn doch, dann bist du eben Brötchen-Autor mit der Challenge, diesen Monat einen Arztroman mit den gängigen Archetypen runterzuhobeln. Aber du willst keine Archetypen in Rollen auftreten lassen, du willst deinen Figuren eine lebendige Identität geben.

Bleibt wach, wir machen jetzt eben kurz eine Einführungsveranstaltung in Soziologie!

Ich teil mal eben Zettel aus, also, ich kopier uns mal eben das Snippet, mit welchem Google auf Wikipedia verweist. »Identität ist die Gesamtheit der Eigentümlichkeiten, die eine Entität, einen Gegenstand oder ein Objekt kennzeichnen und als Individuum von anderen unterscheiden. In ähnlichem Sinn wird der Begriff auch zur Charakterisierung von Personen verwendet.«

Schnarch ... äh, was? Wir fangen einfach eben auf der anderen Seite an. Was ist eine Rolle? Irgendwie gibt es in jeder Schulklasse ein Mädchen, das schon in der achten Klasse weiß, dass es mit 24 heiraten wird, weil, spätestens mit 26 wird es ja Zeit für das erste Kind. Für den Jungen. Ja. Ist einfach hübscher, wenn das Mädchen danach kommt, weil, dann kann der große Bruder auf Familienfotos den Arm um die kleine Schwester legen, das sähe doof aus, wenn der »Beschützer« einen Kopf kleiner wäre als seine Schwester.

Rollenmodelle sind eben oft sehr klassisch. Es gibt auch in jeder Klasse einen Jungen, der darauf hinarbeitet, den Notendurchschnitt zu bekommen, mit dem er diese Ausbildung machen kann, um dann jene Zusatzausbildung machen zu können, weil, dann ist er mit 30 in einer leitenden Position und kann dann endlich sein Haus kaufen. Allet chic.

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