Ich bin hier

2.4K 110 7
                                    

Es war Vollmond und sein Licht erhellte den Wald. Ich rannte durch Gestrüpp, vorbei an bemoosten Steinen und Bäumen, immer tiefer, bis ich an einer Klippe ankam. Erst jetzt hielt ich an, nachdem ich endlos rannte. Mein Atem ging unheimlich schnell und ich schnappte nach Luft. Meine Knie gaben nach und ich sackte auf der beleuchteten Lichtung zusammen. Arme und Beine waren zerkratzt und blutig, doch ich spürte nichts. Nur meine brennenden Lungen, die verzweifelt versuchten sich zu erholen. Es half nichts, ich war kurz vor einer Panikattacke. Die Klippe fiel steil ab in eine Schlucht, der Boden war hart und kaum zu erkennen. In der Ferne konnte ich die Stadt sehen und die Mauer. Diese elendige Mauer, an der alles hing, die alles bestimmte, von der all unser Leben abhing. In dieser Welt war ein einzelnes Menschenleben nichts wert, nur diese kalten aufeinander gestapelten, leblosen Steinblöcke zählten. Nicht mein Leben zählte, nicht Levis und auch nicht das unseres ungeborenen Kindes. Wir wussten es doch alle! Täglich belogen wir uns. Auch Levi wusste, dass es nichts brachte, wie konnte er mir dann nur so etwas antun? Ich hatte dieses Kind nicht auf dem Gewissen, es wusste, dass es in dieser Welt nicht leben wollte. Ich machte mich nur einer Sache schuldig: ein Teil von mir war erleichtert. Erleichtert, dass ich kein Kind in dieser Welt aufziehen musste, in dieser Welt die nur Leid kennt und keine Freiheit. Wie hätte ich meinem Kind in die Augen sehen können, mit dem Wissen, dass es diese Mauern nur hinter sich lassen könne, wenn es sein Leben aufs Spiel setzt?
„Es ist besser so...", flüsterte ich atemlos vor mich hin. Immer wieder wiederholte ich diese Worte. „Es ist besser so...es ist besser". Ich bekam meine Panik in den Griff, die Welt um mich herum nahm wieder Gestalt an. Meine Verletzungen fingen an zu brennen, meine Erinnerung an das, was ich getan hatte kamen wieder.
Dafür werden sie mich einsperren, dachte ich nur. Ich hatten den Coporal des Aufklärungstrupps mit einem Messer bedroht, sie werden mich dafür einsperren. Und Levi würde es begrüßen, dachte ich verbittert. Er würde es sicher als gerechte Strafe für mich ansehen. Ich wollte Wut in mir heraufbeschwören, doch es kam nur Verbitterung und größtenteils Trauer heraus. Für eine kurze Zeit, nur für diese paar Monate, war ich glücklich. Es war die besten Zeit meines Lebens, besser als ich es je für möglich gehalten hatte. Doch nun fiel ich, ich fiel und niemand hielt mich auf. Mit diesen Gedanken sah ich die Klippe hinunter und richtete mich auf. Was konnte ich noch erwarten? Entweder würde ich hingerichtet oder eingesperrt. Vielleicht als Köder für Titanen verwendet, doch am Ende blieb es doch bei meinem baldigen Tod. So hätte ich es wenigstens selbst in der Hand. Nur ein Schritt und es wäre vorbei...Meine Beine bewegten sich auf die Klippe zu, ich hörte den Wind in den Bäumen rauschen. Er wehte durch meine Haare und zog an meinen offenen Wunden. All der Schmerz kann jetzt beendet werden, dachte ich. All diese Gefühle in mir werden sterben, wenn ich nicht mehr bin, es muss ein Ende haben. Noch einmal wollte ich diesen Wind, der von so weit weg kam in meinen Lungen spüren und atmete tief ein.
Meine Ohren lauschten immer noch dem Wind, der, wie es mir schien, rief. Es war ein immer wiederkehrendes Geräusch und es... es wurde lauter? Rief da wirklich jemand? Dumpf verstand ich es langsam.
„Lea!".... „Leaaaa!"
Das konnte doch nur der Wind sein aber nein... es kam immer näher und jetzt wurde es ganz deutlich.
„LEAAAA!", er schrie nach mir und suchte mich. Ich erkannte Levis Stimme, ich hörte sein 3D-Manöver, wie sich seine Haken in die Bäume schlug, wie die Seile sich einrollten und zurück schnurrten.
Ich hatte Angst mich umzudrehen, mein Blick blieb an der Mauer geheftet. Schnell! Jetzt! Spring jetzt, sonst findet er dich! Spring, sonst landest du im Kerker oder wirst erschossen! Doch ich konnte dieser Stimme in mir nicht nachgeben. Ich wollte ihn doch nur einmal noch sehen, nur einmal bevor ich das alles beende.
„Lea! Bleib... bitte! Bleib stehen...", er hatte mich gefunden. Ich hörte ihn schwer atmen, er stand wohl ca. Fünf Meter hinter mir.
„Komm mir ja nicht zu nahe", sagte ich mit fester Stimme, drehte mich aber immer noch nicht um. Ich musste mich erst sammeln, bis ich seinen Anblick stand halten könnte.
„Ich bin hier... ich bin hier Lea."
„Das merk ich, dass du hier bist", ich drehte mich um und erblickte einen erschöpften, verschwitzen und elendigen Levi. Er hielt sich nur schwer auf den Beinen, er sah aus als hätte er tagelang nicht geschlafen, kurzum er sah halbtot aus. Erschrocken wich ich etwas zurück und merkte, dass mein Fuß fast ins Leere trat. Nur mit den Zehenspitzen fand ich noch Halt an der Klippe und taumelte kurz. Sofort reagierte Levi und wollte zu mir, doch ich fing mich und machte einen abwehrende Haltung.
„Bleib – zurück!"
„Lea...", seufzte Levi erschöpft und senkte seinen Blick.
Mein Herz schien aus meiner Brust zu springen, es wollte los von diesem kalten Körper und leben, leben mit diesem Mann. Aber wie sollte es je wieder normal werden, wie sollten wir je wieder zu unserem-
„Ich weiß", fing Levi plötzlich an und richtete sich auf, „ich weiß, dass wir nicht zu diesem Punkt zurück können, als wir uns liebten und es einfach war."
Seine Augen fixierten und fesselten mich an diesen einen Punkt wo ich stand, ich konnte keinen Schritt gehen.
„Ich weiß auch, dass ich unverzeihliche Dinge zu dir gesagt habe. Du hast unser Kind nicht getötet, diese Welt hat unser Kind getötet."
Levi ging einen Schritt auf mich zu.
„Ich weiß, dass wir mehr als nur eine Affäre sind und es ist mir scheißegal was andere sagen oder denken."
Noch ein Schritt näher.
„Ich weiß, dass ich ohne dich nicht weiter machen kann. Die Menschen sagen, ich wäre der stärkste Soldat der Menschheit, doch das bin ich nur mit dir."
Er war nur noch eine Armlänge von mir entfernt und immer noch fesselten mich diese Augen, die vom Mondlicht angeleuchtet wurden.
„Ich weiß, dass es nie mehr so wie vorher sein wird, doch diese ganze Scheiße, stehen wir zusammen durch und das, das zeigt unsere Stärke, die wir gemeinsam besitzen."
Levis Hände umfassten mein Gesicht und ich spürte seine Wärme, seine unvergleichliche Wärme, die sofort Besitz von mir ergriff.
„Und ich weiß," seine starke Stimme wurde auf einmal brüchig und leiser, „dass ich die liebe, mehr als ich es mir je hätte vorstellen können. Und ich weiß, dass du mich auch liebst".
Ich schloss meine Augen, denn Levis Gesicht näherte sich meinem, seine Lippen berührten schon fast als er noch flüsterte:
„Und deshalb bin ich hier."

Der Corporal und die Ärztin 🍋Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt