Jetzt komme ich nicht mehr zur Ruhe. Meine Gedanken kreisen. Warum sollte mich jemand verfolgen? Warum würde es sich das lohnen? Wer kann sich Zutritt zu meinem Zimmer verschaffen, in einem Gebäude wo überall Sicherheitskameras sind und jede Bewegung strengstens kontrolliert wird?
Ich bin am Durchdrehen. Wenn ich nur mit Marion sprechen könnte, wenn ich mich nur abreagieren könnte, wenn ich mich nur ablenken könnte.
An Schlaf ist überhaupt nicht mehr zu denken. Ich fühle mich ausgeliefert, wer weiss, wann sich dieser jemand wieder in mein Zimmer schleicht und was er dann mit mir macht.
Das blinkende Lämpchen, welches für meinen Generalzustand steht, blinkt orange. Sollte es auf rot wechseln, kommt das Pflegepersonal vorbei.
Dieses Szenario will ich um jeden Preis vermeiden.
Mit aller Kraft wälze ich mich aus dem Bett. Auf dem Klo schiebe ich mir das fünftletzte Equi zwischen meine bleichen Lippen.
Unter der Dusche befreie ich mich vom kalten Schweiss, blicke aber ständig nervös nach der Türe.
Der Morgen will ewig nicht kommen.
Als mir das Frühstück gebracht wird, erschrecke ich, als ich mein Spiegelbild in der metallenen Teekanne erkenne. Ich sehe aus wie eine kahle Untote, bleich mit eingefallenen Augen umrahmt von tiefen schwarzen Ringen.
Das Essen ist widerlich. Die Absicht bei der Zusammenstellung jedoch offensichtlich: Den Körper bei der Empfängnis unterstützen. Der eklige Magnesium-Drink muss als erstes runter, dann muss ich 30 Minuten warten dann kommt der ungesüsste mit Kakaopulver, Baumnussöl und Zimt angereicherte Haferbrei. Drei Suppenlöffel bekomme ich davon runter. Dann kommt mir der Magnesiumdrink fast wieder hoch. Zu meinem Glück ist die abschliessende Folsäuretablette winzig und somit unproblematisch.
Bevor ich mir die Hände und den Mund mit der Serviette sauber reiben kann, steht die komplette, namenlose Arztvisite bei mir im Zimmer. Alle in blendend weissen gebügelten Kitteln und schnittigen Frisuren. Die beiden Assistenzärztinnen tragen dezent Lipgloss und Lidschatten passend zur Augenfarbe, der Assistenzarzt einen exakt getrimmten dunklen Bart und die leitende Ärztin ästhetisch lackierte Fingernägel im nude Ton.
Eine Mauer von perfekten Personen gegen einen heruntergekommenen menschlichen Schatten.
In mir zieht sich alles zusammen vor lauter offensichtlich demonstrierter Überlegenheit.
Reflexartig nicke ich zum Gruss. Worte schaffe ich keine. Mindestens die gesellschaftlichen Normen will ich ebenbürtig einhalten. Immerhin bin ich nach wie vor ein Mensch.
Dann sinke ich zurück auf mein Kissen. Ich nehme nur noch Stimmengewirr wahr. Konzentrieren geht nicht mehr. Irgendwann wird mein Kopfteil hydraulisch hochgefahren und die gesamte Liegehöhe verstellt. Eine Assistenzärztin hat irgendwann während dieser Zeit einen Rollstuhl neben mein Bett geschoben.
Ich habe gar nicht mitbekommen wie es dazu kam, doch jetzt zerren mich der Assistenzarzt und sie unsanft auf den Stuhl, das Tablett mit dem Frühstück haben sie einfach ans Fussende geschoben. Vollkommen überrumpelt wehre ich mich nicht und beobachte wie von aussen das Geschehen.
Die polierte Ärztin spricht mit meinungsstarken Augen und finaler Gestik dezidiert auf die andere Assistenzärztin ein, während diese alles mit einem harten Tastaturanschlag im Notebook notiert.
Dann schiebt mich der Assistenzarzt auch schon aus dem Zimmer, den langen Korridor entlang zu den Untersuchungsräumen.
Ohne grosses Federlesen werde ich von dem Assistenzarzt und der -ärztin auf den Gynäkologenstuhl gehievt. Meine Füsse auf die Fussablagen gestellt und festgebunden, meine Arme an den Armlehnen fixiert. Vorerst kann ich meine Knie noch zusammendrücken.
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Lillemors - Wiegenlied
SpiritualLeihmutterschaft, als Gegenleistung für Ausbildung Lillemor ist 20-jährig, eine Low. Sie lebt als Vollwaise in dem ihr zugeteilten Zimmer eines Wohnheims. Sie studiert militärische Strategie, konzentriert sich auf Fakten, ist ehrgeizig und will die...