1. Strophe - Lullaby

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~ EZRA ~

12-jährig

Wir sitzen zu zweit am Tisch zum Abendessen. Das dritte Gedeck ist unberührt und der Platz leer.

Vater schenkt sich in seine Flûte Jahrgangschampagner nach. Belle Epoque wie er ihn jeweils mit meiner Mutter zum Hochzeitstag getrunken hat. Er prostet mir zu und ich muss den Würgreiz unterdrücken. Ich gebe das Abbild des Mustersohnes, ganz so wie ich erzogen wurde.

„Wir haben es heute im Parlament geschafft mein Sohn!" er nimmt einen kleinen Schluck mit seinen zugespitzten Lippen und tätschelt sich mental wohl gerade selbst auf die Schulter. „Das neue Gesetz wurde verabschiedet!"

Ich bin satt. Das Besteck schiebe ich auf dem Teller zusammen. Das Zeichen für die Bediensteten abzuräumen.
„Mein Sohn, jetzt wird die Stadt ein besserer Ort!" Ich bin neidisch, dass er als Reaktion auf den Verlust meiner Mutter eine Lösung gefunden hat: Politik.

Selbst sitze ich immer noch im Loch und weiss nicht, wie ich mich daraus befreien soll.

Vater tauschte seinen hohen Rang im Militär gegen einen Sitz im Parlament. Mein Weg wäre geebnet, dann erkrankte Mutter, das Licht unserer kleinen Einheit. Ihr aufgezwungenes Schicksal war schlussendlich die Kapitulation und unseres die Dunkelheit.

Die Fassade blieb dabei makellos. Vater prahlte damit, dass wir das ohne Hilfe geschafft hätten. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich als Erfolg zu verzeichnen sei.

Er und ich tauschen uns aus über tägliche Fakten oder Organisatorisches. Nie über Sie.

Und jetzt soll Vater die Lösung für eine verbesserte Welt gefunden haben?

Ich blicke auf die Champagnerflasche mit den von Hand aufgemalten Anemonen und bin erstaunt, dass mir gegenüber sowas, wie Feierlaune am Tisch mit dem einen leeren Platz aufkommen kann.

Vater schaut mich triumphierend an. „Die neuen Gesetze revolutionieren Beziehungen. Die Stadt übernimmt die Rolle der Familie. Jedes Kind ist Kind der Stadt." Er blinzelt. „Da wir zudem nicht wissen, wie sich die Pandemie weiterentwickeln wird, sind geregelte Prozesse in allen Lebensbereichen sinnvoll. So werden wir auch die Stadt vom Land abgrenzen. Beide Massnahmen minimieren die Durchmischung der Bevölkerung. Ansteckungen werden in bestimmten Bevölkerungsgruppen bleiben. Die niedrige 14-Tage Inzidenz der Neuinfektionen wird uns recht geben, du wirst es sehen, mein Sohn. Das Leben wird für alle besser!" Er schenkt sich zufrieden nach.

Ich bleibe reglos sitzen.

„Sohn, du kannst ein Leben lang frei bleiben. Du kannst dich voll entfalten. Dir habe ich eine bessere Zukunft ermöglicht."

Ich brauche eine Umarmung kein neues Gesetz.

Doch wie es mir anerzogen wurde, nicke ich meinem Vater zu und bitte ihn dann, den Tisch verlassen zu dürfen.





AM GLEICHEN TAG, ZUR GLEICHEN ZEIT



~ LILLEMOR ~

7-jährig

«Cherie», Maman nimmt mein Gesicht in beide Hände und schaut mir tief in die Augen, «du bist das wichtigste in meinem Leben, das weisst du, oder?» Ich nicke.

«Cherie, du weisst, dass ich dir nichts zumute, was du nicht schaffen kannst, das weisst du, oder?» Ich nicke abermals.

«Cherie, morgen fahren wir in die Stadt. Du wirst dort zur Schule gehen und Leben. Ein grosses Abenteuer wird für dich beginnen. Wir werden einander lange nicht sehen, doch das schaffen wir, nicht?» Ich nicke. Wir werden es bestimmt schaffen. Leben und einander nicht sehen, das haben wir auch schon geschafft.

«Cherie, morgen wird ein grosser Tag für dich werden. Du wirst dein Leben als Reiter starten, wie ich es dir jeden Abend vorgesungen habe. Du freust dich darauf, oder?» Ich nicke, zögernd diesmal, das Schlaflied stimmt mich immer etwas melancholisch, dennoch scheint das der Lauf der Dinge zu sein.

«Cherie, du weisst dass ich fest an dich glaube. Du bist so stark, so viel stärker als ich, das erkenne ich jetzt schon. Cherie ich werde dich für immer lieben, das weisst du, gell?» Ich nicke. Ja, ich weiss, dass mich Maman sehr liebt. Sie hat alles für mich geben, mich Nächte lang in den Armen gehalten, ich für jeden neuen Schritt ermutigt, mir Aufmerksamkeit und Anerkennung geschenkt.

«Ich werde dich auch für immer lieben».

Dann lege ich mich hin. Maman deckt mich zu, krault mir den Rücken während sie mein Schlaflied singt. Ich schliesse die Augen und sehe mich als Reiter, wie ich meine Bestimmung erfülle. Dabei werden meine Augen glasig. Die Melodie in Moll berührt mein Herz an seiner empfindlichsten Stelle.

«Gute Nacht mein Schatz,» flüstert Maman. Sie streichelt mir zärtlich über die Haare und gibt mir einen Gutenachtkuss auf die Stirn.

Lillemors - WiegenliedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt