2. Strophe ~ Neuanfang

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~ EZRA ~


Das kristallklare, kalte Wasser im Becken leuchtet türkis. Fliesen mit goldenen Ornamenten zieren den runden Rand. Ich gehe die letzte Stufe hinab in das hüfttiefe Wasser. Drehe mich zu den Stufen, halte mir die Nase zu und schliesse die Augen.

Jetzt tauche ich ab, höre ganz in mich hinein und halte die Luft an. 40 Sekunden unter Wasser, alleine mit meinem pochenden Herzen, mit dem konstanten Rauschen in den Ohren, mit der Ruhe in mir. Ich bin angekommen,  an meinem Ziel, ich habe den Draht zu meiner Bestimmung in beide Hände genommen.

Von Herzen bin ich bereit, meinen Weg zu gehen, den Weg auf dem ich Frieden finden will. Frieden mit mir, mit meiner Mutter mit der Welt.

Eine feine Berührung auf den Rücken signalisiert mir, dass die Zeit um und die Wandlung abgeschlossen ist. Symbolisch bin ich also bereit für mein neues Leben.

Ich tauche langsam auf.

Mit beiden Händen streiche ich meine klatschnassen Haare aus den Augen und fahre dann der Nase entlang über Mund und Kinn.

Dann atme ich tief und fest ein, öffne die Augen und blicke von der strahlenden Ilona zum stolzen Mats.

Beide strecken mir ihre Hände entgegen und führen mich aus dem Becken in den feierlich mit Kerzenschein ausgeleuchteten grosszügigen Raum.

Wasser perlt über meine muskulösen Arme, meinen flachen, harten Bauch, über meine kräftigen Beine und ein feines, kühle Lüftchen, jagt mir eine Schauer über den ganzen Körper.

Bekleidet bin ich einzig mit einem weissen Frottee-Tuch um meine Hüfte.

Meine Freunde nehmen mich in die Mitte und zu dritt schreiten wir durch die Mittelgasse der  versammelten Vereinigten der Samaka. Alle neigen den Kopf und den Oberkörper stumm nach vorne, das Zeichen für Ehrerbietung und Zustimmung.

Vor den sieben Ältesten kommen wir zu stehen. Wie es das Ritual vorgibt knie ich mich mit dem rechten Bein nieder. Meinen Oberkörper halte ich aufrecht. Die Augen sind gerade aus gerichtet. Beide Hände lege ich übereinander auf das angewinkelte linke Knie. Mein Körpersprache sagt: Huldigung.

Die Älteste der Vereinigung, Smaranda, tritt würdevoll mit der brennenden Feuerschale in der Hand auf mich zu. Geflankt wird sie von Aghi und Celeste. Celeste schwingt die silberne Kugel mit Weihrauch und Aghi die goldene, reich verzierte Schale mit Erde.

«Wir freuen uns, dich, Ezra Thorfjellson, in die Mitte unserer Verfechter des Lebens aufzunehmen.» Smarandas tragende abgeklärte Stimme erfüllt den ganzen weiten halbdunkeln Raum.

Sie hält das lodernde Feuer über meine linke Schulter. «Ezra, in deinem neuen Leben, strebst du nach Liebe.»

Dann hält sie das heisse Feuer über meine rechte Schulter: «Strebst du nach Güte.»

Gerade als mein Ohr warm wird, hebt sie das glühende Feuer wieder über meine linke Schulter: «Strebst du nach Kraft.»

Der Rauch des hellen Feuers lässt mich blinzeln als sie es wieder über meine rechte Schulter hebt: «Strebst du nach Freude.»

Die goldenen Funken stieben als sie die Feuerschale wieder über meine linke Schulter hält: «Strebst du nach Frieden.»

Abschliessend hält Smaranda das helle Feuer ein letztes Mal über meine rechte Schulter: «Strebst du nach Gerechtigkeit.»

Jetzt hebt Smaranda das lebendige Feuer über meinen Kopf:
«Ezra, das Ziel deines neuen Lebens ist die Mitte, in der Mitte ist das Allesumfassende.»

Lillemors - WiegenliedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt