«Halte jetzt ganz still, damit ich dir die Locken drehen kann.»Mit geschlossenen Augen sitze ich auf dem bequemen Stuhl in der Maske. Das Licht ist grell. Rote Kreise ploppen hinter meinen geschlossenen Lidern auf. Der ganze Raum vibriert zu einem wummernden Bass.
In der Nähe muss es wild abgehen. Alkohol, Tanzen, Betatschen, wohl alles auf engstem Raum.
Ich kenne diese Veranstaltungen nur als der Gipfel von Pandemie-Regelverletzungen. Eine Teilnahme ist ein schwerwiegender Fehler, der in der persönlichen Akte konserviert wird. Ich möchte unter keinen Umständen einen solchen Eintrag!
Mir schiesst es kalt den Rücken hinunter. Meine Hände krallen sich in die Armlehnen, um mein Zittern zu kaschieren.
«Du siehst super aus mit deinen neuen Haaren.» Die euphorische Make-up Artistin scheint zufrieden mit ihrem Resultat. «Los, öffne die Augen und bestaune dich! Du bist ready!»
Was bleibt mir anderes übrig. Durch künstlich lange dunkle Wimpern finde ich mein Spiegelbild.
Meine Lippen sind blutrot, die eingefallenen, hohen Wangen rosig und meine grünen Augen wirken wegen den starken grünen Lidschatten wie monströse Eulenaugen.
Das bin nicht ich! Ich bin keine abgemagerte, platinblonde, männervernaschende Waldhexe.
Ein Kältegefühl sammelt sich in meinem Magen. Ich bin meilenweit entfernt von ready.
«Ich weiss, ich bin eine Koryphäe auf dem Gebiet.» Das Gesicht meiner Make-up Artistin grinst neben mir stolz in den Spiegel. «Los sag schon: Danke liebe Sammy, das hast du super hinbekommen!»
Ich erkenne im Spiegel, dass mein Mund offen steht, wohl schon seit einer ganzen Weile. Ton kommt keiner raus.
Sammy umfasst freundschaftlich meine Schultern. «Freue dich, kleines Käuzchen, gleich startet dein Beach Walk!» Ich werde stocksteif. Vom Beach Walk hat auch Mr. West gesprochen. Nur mag ich mich nicht mehr erinnern, was es genau ist.
Der Beat wechselt und pusht so stark, dass die gläsernen Flacons klirren. Mir ist übel.
Dieser neue Beat scheint Sammy richtig aufzukratzen: «Hey, Käuzchen, eine Reaktion ist immerhin eine Reaktion, komm, gib es zu, vor fünf Tagen warst du ein Schatten und in fünf Minuten ... gehst du da raus und bist eine Erscheinung!»
Der heftige Beat hat in fünf Minuten also wirklich etwas mit mir zu tun. «Ist das hier legal?»
«Was stellst du auch für Fragen, Käuzchen. All das ist organisiert durch das People Management, das weisst du doch! Das People Management ist legal, es ist eine Institution des Staates.»
Ja, das weiss ich, schliesslich erhielt ich ein Aufgebot. Doch es könnte eine Falle sein, eine Verschwörung. Ich würde untergehen und die anderen würden dabei zuschauen und klatschen.
Doch egal ob schlussendlich legal oder illegal, ich habe keine Wahl, ich muss jetzt gleich da raus. So entstellt und hässlich ich mich auch finde, sie haben mich zum Teil dieser Veranstaltung gemacht.
Meine Augen möchten überlaufen. Mein Magen ist ein steinharter Klumpen und ich habe Schüttelfrost.
Mit einem lauten Keuchen stosse mich aus dem Sessel und zische zur Toilette. In die erstbeste Schüssel würge ich bittere Galle.
Tränen laufen über mein Gesicht. Es ist schmerzvoll.
Mein Magen dreht und windet sich. Ich würde mich zusammenreissen, wenn ich könnte, wirklich, doch unaufhaltsam finden weitere Tränen einen Weg über die Wangen in die Toilette. Ich schaue ihnen nach.
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Lillemors - Wiegenlied
SpiritualLeihmutterschaft, als Gegenleistung für Ausbildung Lillemor ist 20-jährig, eine Low. Sie lebt als Vollwaise in dem ihr zugeteilten Zimmer eines Wohnheims. Sie studiert militärische Strategie, konzentriert sich auf Fakten, ist ehrgeizig und will die...