Ein voller Magen studiert nicht gern klärt mich der Abreiskalender an der Wand gegenüber auf.
Und ein Leerer überhaupt nicht! Schiesst es mir durch den Kopf, als ich im Vorzimmer zu Mr West's Besprechungsraum sitze.
Die Vorlesungen nachmittags waren vollgepumpt mit Facts und Figures. Mein Hirn hingegen war auf Sparmodus. Immerhin war ich physisch anwesend und habe zumindest diese Studienvorgaben erfüllt.
Aktuell nimmt der Leistungsdruck stark zu, weil sich die Kurse dem Abschluss nähern.
Um Professor Might meine Leistungsbereitschaft im Vertiefungskurs «Ethische Strategien» zu demonstrieren, habe ich Idiotin mich für eine Gruppenarbeit gemeldet. Die aktuelle Pechsträhne bescherte mir die Zusammenarbeit mit einem Typen. Mit Merlin, ein Macho der sich als Gottes Geschenk an die Weiblichkeit sieht. Dazu ist er besserwisserisch und ehrgeizig. Dieser Typ in Kombination mit mir, da muss ich den Kopf schütteln, das kann nicht harmonisch und reibungslos über die Bühne gehen.
Wir sollen zum chinesischen Strategem «Den Kaiser täuschen und das Meer überqueren» bis in sechs Wochen ein Referat mit Beispielen vorbereiten. Zum guten Glück ist das noch etwas hin.
Mein Magen knurrt laut.
Ich sitze hier und tippe mit meinem Mittelfinger nervös auf den Oberschenkel. Soll ich vielleicht zur Sicherheit ein Equi nehmen? Ich bücke mich gerade zu meiner Tasche, als die Tür sich öffnet.
Sie gibt den Blick frei auf ein künstlich, nahezu grell ausgeleuchtetes Zimmer. Ein Mann drückt auf den Türöffner.
Er ist älter mit rundem Kinn, schwabbeligem Körper und einer Haut, die von einem ungesunden Lebensstil zeugt. Er sieht mich mit kleinen blauen Schweinsäuglein durch eine Horn-Brille an.
«Sie sind Lillemor Lundström?» - Es mieft übel nach Tabak – «Ja»
«Freut mich», sagt er ohne Begeisterung, «ich bin Mr. West, Vorsitzender des People-Managements. Bitte kommen sie rein und setzen sie sich.»
Ich komme seiner Aufforderung nach. Hinter mir fällt die Tür schwer ins Schloss.
Umständlich bewegt sich er sich schwer schnaufend hinter seinen Schreibtisch. Da nimmt er die oberste Akte vom Stapel, jene mit meinem Namen, lässt sie einfach auf den Tisch klatschen, befeuchtet sich die Wurstfinger mit Speichel von seiner grossen roten Unterlippe und schlägt die Akte auf.
«Zurzeit sind sie Studentin?» fragt er mich mit schleppender Stimme, als ob seine Zunge geschwollen wäre.
«Ja»
«Sie sind jetzt 20-jährig? Vor 13 Jahren wurden sie mittellos in der Stadt zurückgelassen?»
Ich bejahe beides und wundere mich, warum er das alles fragt, wenn es doch so in meinen Akten nachzulesen ist.
Er nickt zufrieden mit seinem Wobbelkinn und setzt sich endlich hin.
«Vor ein paar Tagen haben sie unser Aufgebot bekommen. Besten Dank, dass Sie sich zum Termin eingefunden haben», leitet er das eigentliche Gespräch ein.
«Als sie von der Stadt aufgenommen wurden, haben sie sich als Gegenleistung freiwillig verpflichtet, beim Programm des People-Managements mitzumachen.»
Mir bleibt die Luft im Hals stecken und meine Augen nehmen die Grösse von Untertassen an.
«Entschuldigen Sie bitte, das kann gar nicht sein. Wann sollte ich das denn getan haben? Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern.»
Daraufhin schiebt er mir zwei DIN A4 Seiten zu und deutet auf die unterste Zeile: «Sehen Sie selbst. Das ist ihre Unterschrift.»
Wirklich, da ist meine Unterschrift in meinen kindlichen Buchstabenzeichen. Daneben erkenne ich fünf Fingerabdrucke. Ein eingehender Vergleich mit meiner Hand beweist, dass sie identisch sind, mit meinen Fingerkuppen.
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Lillemors - Wiegenlied
SpiritualLeihmutterschaft, als Gegenleistung für Ausbildung Lillemor ist 20-jährig, eine Low. Sie lebt als Vollwaise in dem ihr zugeteilten Zimmer eines Wohnheims. Sie studiert militärische Strategie, konzentriert sich auf Fakten, ist ehrgeizig und will die...