13. KLINIK

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Es ist eisig kalt und einiges vor neun. Schon sehe ich das Tor Süd. Sein Eisengitter ist überzogen von Eiskristallen. Letzte Nacht hat der Frost nochmals seine Stärke trotz Frühling demonstriert.

Die frühen Sonnenstrahlen lassen das Campus Gelände silbern leuchten und zeichnen die feinen Schatten des Gitters auf die weisse Wiese. Weder das junge Gras noch die ersten Blumenknospen hat die Kälte verschont.

Das Gitter umgibt das gesamte Campusgelände. Die Studierenden und die Stadtbevölkerung mischen sich nicht.

Eine Massnahmen im Kampf gegen die Pandemie.

Studierende brauchen darum keine Maske zu tragen und haben einen einigermassen normalen Studentenalltag.

Immer noch mutterseelenallein stehe ich da und warte. Ich habe starke Bauchschmerzen. Die Kirchenuhr zeigt mittlerweile fünf vor neun Uhr. Bus ist weit uns breit keiner in Sicht. Mein kalter Mittelfinger tippt einen schnellen Rhythmus auf den Oberschenkel.

Dann sehe ich eine einsame Person in weissem Kittel auf dem Gehsteig zielstrebig dem Eisengitter entlang laufen. Sie kommt auf mich zu, bis sie auf der anderen Seite der Absperrung vor mir stehen bleibt.

Braune glänzende Haare fallen in Wellen über ihre Schultern. Ihr dezentes Make-up und die schillernden lila Lidschatten betonen ihre braunen Augen. Nase und Mund sind von der obligaten Maske verdeckt.

"Hallo", begrüsst sie mich freundlich, "du wartest hier, auf dass du abgeholt wirst als Neueintritt für das Programm vom People Management, korrekt?"

"Hi, ich bin - " "Ah, deinen Namen kannst du für dich behalten, den brauchen wir nicht!" Sie lächelt mich zuckersüss an.

"Ah okay", das ist doch nicht normal. Leicht verunsichert presse ich als Antwort auf ihre Frage ein kratziges, „Ähm ja," heraus, „ich warte auf die Abholung."

Für diese Abholsituation habe ich mir vorgestellt, dass ich mit vielen anderen Teilnehmenden in einen Bus steigen werde.

Meine Augen gleiten forschend über ihren schneeweissen Kittel. Sie trägt kein Logo der Klinik und kein Namensschild.

"Pardon, wo gehen wir hin und wie ist ihr Name?" "Das ist nicht nötig, Ärzte und Teilnehmende bleiben für das Treatment anonym."

Die Kirchenglocke schlägt laut neun mal.

„Es ist Zeit. Komm doch bitte jetzt zur Durchgangskontrolle." Sie marschierz bestimmend los Richtung Tor.

Wie festgefroren bleibe ich auf dem Fleck stehen. So komme ich bestimmt nicht mit.

Jetzt merkt sie, dass ich immer noch an Ort und Stelle bin. Mit einem entnervten Blick und abrupten Nicken signalisiert sie mir, dass ich kommen soll.

Ich schüttele minim den Kopf. Nein, ich will eine Antwort, die mir einleuchtet.

Widerwillig kommt sie zurück ans weissgefrorene Gitter. Ganz die Professionelle fragt sie: „Dürfte ich erfahren, was dich daran hindert jetzt zur Durchgangskontrolle zu kommen? Es ist Punkt Neun Uhr. Wir sind so angemeldet."

„Wo gehen wir hin und warum sind wir anonym?" Ich verschränke meine Arme vor der Brust. „Ich komme nicht mit, bevor ich eine überzeugende Antwort habe."

Sie schüttelt ungeduldig ihre braunen Wellen. „Wir sind anonym, weil das Zurückzahlen der Schuld für die Teilnehmenden eine kurze unbedeutende Phase ihres Lebens sein soll und die Behandlung findet in der Klinik Faraway statt. Zufrieden?" dann dreht sie sich wieder dem Tor zu. „Komm jetzt, sonst bekommen wir Schwierigkeiten weil wir eine zu grosse Abweichung zum angegebenen Slot haben!"

Lillemors - WiegenliedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt