Gift

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Capi richtete sich möglichst leise auf und schwang die Beine aus dem Bett. Lia schlief seit drei Stunde tief und fest. Zum Glück. Er hatte schon die Befürchtung gehabt, dass sie viel zu aufgewühlt sein könnte, um überhaupt schlafen zu können. Aber als sie mit Samra ziemlich durchgefroren zurück ins Haus gekommen war, wirkte sie deutlich ruhiger. Vielleicht weil die beiden sich ausgesprochen hatten. Vielleicht war es tatsächlich auch die Erleichterung, dass sie sich nicht mehr vor ihren Brüdern und ihrer besten Freundin verstecken musste. Ja, er hatte die Erleichterung gesehen, ohne, dass sie es ihm hatte sagen müssen. Auch wenn er selbst wirklich froh war, dass die Erleichterung den Schmerz zu überlagern schien, war es aber auch genau diese, den ihn beinah etwas quälte. Weil er sich fragte, ob er nicht schon früher etwas hätte sagen sollen. Damals, als er mit Magnus in der Küche gesessen hatte und der Blonde so gehofft hatte, dass er ihm sagte, was Lias Rückfall damals ausgelöst hatte. Wenn er es getan hätte, wären Lia auf jeden Fall einige Aufeinandertreffen mit Louis erspart geblieben. Einschließlich das, was ihr unter anderem ihr immer noch etwas lädiertes Handgelenk beschert hatte. Wenn er ehrlich zu sich war, hatte Samra vielleicht sogar recht gehabt, als er ihm vorgeworfen hatte, dass er es nur nicht selbst sagte, weil er zu große Angst hatte, Lia zu verlieren. Und ja verdammt, er hatte eine Scheißangst davor. Und auch wenn er es nicht wollte, verstärkte sich diese Angst vor allem durch zwei Komponenten: Wenn er Entzugserscheinungen hatte oder auf Drogen war und wenn Lia allein mit Samra war.

Heute kam beides zusammen: Lia war Samra allein hinterhergegangen und fast eine Stunde weggewesen und er brauchte dringend etwas. Das war auch der Grund, warum er sich nochmal aus dem warmen Bett schlich. Wobei das Schleichen mit zitternden Muskeln alles andere als leicht war. Aber er wollte Lia auf keinen Fall wecken. Es war schlimm genug, dass er sie ausgerechnet in dieser Nacht einige Stunden allein lassen würde. Natürlich wusste sie, dass er auch hier etwas nehmen musste. Trotzdem wollte er nicht, dass sie es mitbekam, wenn er es verhindern konnte. Es hatte sich nichts geändert: Er traute sich nicht mehr genug selbst, wenn er etwas genommen hatte, um direkt danach bei ihr zu sein. Er verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter, was nervig lange gedauert hatte, ehe er seine Jacke und Schuhe anzog und sowohl seinen Autoschlüssel als auch den Schlüssel für die Haustür mitnahm. Sicher, dass du sie ganz allein mit Samra im Haus lassen willst?, fragte der Joker ihn. Er stockte kurz. Wir könnten auch nur kurz etwas holen und dann wieder zu ihr ins Bett kriechen. Vielleicht bekommen wir ja dann sogar Sex, flüsterte der Joker verführerisch. Oh, das klang wirklich verlockend. Er schüttelte den Kopf. Nein, das ging nicht. Aus mehreren Gründen. Er verließ das Haus und machte sich auf den Weg zu der Scheune, die zu einer ziemlich luxuriösen Garage umgebaut worden war. Als Lia bei ihrer Ankunft gesagt hatte, dass sie das Auto in die Garage stellen könnten, hatte er sich noch gewundert, dass dort Platz war. Als er sie dann gesehen hatte, hatte er sich nicht mehr gewundert.

Bei der Garage angekommen, schaltete er die Taschenlampe an seinem Handy an. Natürlich gab es auch Licht in der Garage, aber das wollte er nicht anmachen. Er wollte möglichst keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er hatte seinen Vorrat an Tilidin und etwas Koks in seinem Auto gelassen. Lias Vater war immerhin Staatsanwalt und Capi wollte auf keinen Fall, dass in einem seiner Häuser Drogen gefunden werden konnten. Dann lieber sehr eindeutig in seinem Auto. Auch, wenn es wohl ziemlich unwahrscheinlich war, dass die Polizei dieses Anwesen durchsuchen würde. Die Beziehungen reichten vermutlich bis sehr weit nach oben. Die Aussicht, dass er in wenigen Stunden zum ersten Mal auf ihre Eltern treffen würde, sorgte wahrscheinlich noch zusätzlich dafür, dass er unbedingt etwas brauchte. Er öffnete sein Auto und trat an den Kofferraum, den er öffnete. Er hob den Kofferraumboden an, um an die Mulde, in der sich eigentlich das Reserverad befinden sollte, zu kommen. In dem Moment, in dem er mit inzwischen stark zitternden Hände nach der Flasche Tilidin griff, ging das Deckenlicht an. Er kniff die Augen zusammen, denen es für einen Moment zu hell war, während sein Herz nervös in seiner Brust schlug. Wer war das?

Odyssee |Capital Bra & Samra|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt