Aussprache

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Nachdem er das Studio verlassen hatte und wieder ins Bad geflüchtet war, hatte es einige Minuten gedauert, bis er die Blutung gestoppt bekommen hatten. Anschließend hatte er sich erschöpft auf dem Boden sinken lassen und den Kopf an die kalten Kacheln hinter sich gelehnt. Schon da hatte ihr Blick ihn verfolgt. Er hatte sie nicht nochmal ansehen können, als er den Raum verlassen hatte. Viel zu groß war seine Angst gewesen, was er dann in ihrem Blick finden würden. Er hatte die Tränen unter der Oberfläche gesehen als er sich weggedreht hatte. Scheiße, was hatte er da nur angerichtet? Die Wut und der Hass auf sich selbst hatte sich immer mehr gesteigert, bis er nicht mehr einfach nur da sitzen konnte. Er hatte sich abreagieren müssen und nachdem es nicht gereicht hatte, den Mülleimer und ein kleines Regal durch die Gegend zu werfen, hatte er den Spiegel zerschlagen. Der Schmerz in seiner Hand hatte ihm langsam noch mehr in die Realität zurückgeholt. Er hatte sie einfach weggeschickt, obwohl er doch eigentlich wusste, wie gefährlich es für eine Frau wie sie in dieser Gegend um diese Uhrzeit sein könnte. Selbst, wenn sie nur bis zu einem Taxi lief. Als er zurück ins Studio eilte, war sie natürlich nicht mehr da. Nur sein Portmonee lag verlassen auf dem Tisch. Er sah die drei Produzenten an, die ihn erschrocken und besorgt musterten. "Wo ist sie?", fragte er angespannt. Wahrscheinlich sah er in diesem Moment mit den wirren Haaren und der blutigen Hand tatsächlich ähnlich irre aus wie der Joker. Wahrscheinlich klang er auch so. "Gegangen. Das wolltest du doch", antwortete Constantin schließlich ruhig. Er fuhr sich durch die Haare, während er unruhig hin und her lief, ehe er zielstrebig auf seine Jacke zusteuerte. Er musste sie suchen. Er griff in seine Jackentasche und runzelte die Stirn. Er griff in die andere und drehte sie langsam wieder zu den anderen drei Männern um. "Wo ist mein Schlüssel?", knurrte er gefährlich leise. Vincent sah ihn ruhig an: "Versteckt. Du kannst so nicht mehr fahren." "Gibt mir sofort meinen Scheißschlüssel", zischte er ungehalten. Was bildeten die sich eigentlich ein? Er konnte ja wohl selbst noch entscheiden, ob er fahren konnte oder nicht. Lukas sah tatsächlich etwas eingeschüchtert aus, die beiden älteren Männer waren nervig ruhig. "Du würdest es nur schlimmer machen, wenn du jetzt zu ihr fährst. Falls du überhaupt ankommen würdest. Außerdem haben wir ihr versprochen, dass wir dich heute nicht mehr fahren lassen", erklärte Vincent ruhig und Capi fragte sich ehrlich, was dieses leichte Zucken seiner Mundwinkel sollte. Er fand das definitiv gerade alles andere als lustig.

Erst langsam kam das Gesagte bei ihm an. Hatte sie sich tatsächlich trotz seinem unrühmlichen Auftritt noch Sorgen um ihn gemacht oder hatte sie nur sicher gehen wollen, dass sie ihn nicht mehr so schnell sehen musste? Aber dafür müsste sie wissen, dass er sie nicht rausgeschmissen hatte, weil sie seinen dummen und plumpen Annäherungsversuch abgelehnt hatte. Sein Kopf begann immer mehr zu brummen. Das waren zu viele Gedanken für seinen momentanen Zustand. Er griff nach seinem Portmonee und warf einen Blick hinein. Er runzelte die Stirn. Da fehlte, wenn er das richtig im Kopf hatte, kein Geld. "Hat sie ein Taxi genommen?", fragte er wieder angespannter. Lukas schüttelte den Kopf. "Wie jetzt? Sie war doch nicht so dumm mit der U-Bahn fahren zu wollen?" Das fehlte ihm noch. Sie war manchmal beschissen stur, wenn es um ihre Eigenständigkeit ging. Bei ihr Zuhause am Meer konnte sie vielleicht auf sich aufpassen, aber nicht hier. "Reg dich ab, Samra fährt sie nach Hause. Der hat schon befürchtet, dass du sonst am Rad drehst", warf Constantin ein und sorgte so dafür, dass er erleichtert ausatmete und sich zurücklehnte. Gott sei Dank, bei dem Libanesen war sie sicher. Der würde sie heil nach Hause bringen. Morgen. Beziehungsweise irgendwann heute, wenn sie geschlafen hatte und er auch, würde er versuchen es zu retten. Wenn sich noch etwas retten ließ.

Sein Kopf dröhnte immer noch und geschlafen hatte er natürlich auch noch nicht, als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss und Lia eintreten ließ. Sie sah sich neugierig in seinem Flur um, während sie sich die Schuhe abstreifte und sich von ihm die Jacke abnehmen ließ. Als sie schließlich auf seinem Sofa saß, wurde ihm bewusst, dass sie die erste Frau war, die er mit in seine Wohnung genommen hatte, seit er dort eingezogen war. Abgesehen von Mama natürlich. Er war in der Tür stehen geblieben und sah sie nachdenklich an. An den Anblick könnte er sich gewöhnen. "Willst du was trinken?", fragte er schließlich. Sie nickte: "Wasser wäre toll." "Trinkst du eigentlich auch was anderes?", fragte er amüsiert. Bisher hatte er sie noch nie etwas anderes trinken sehen. Nicht mal zum Frühstück. Sie zuckte mit den Schultern: "Selten mal ein Glas Saft zum Frühstück oder eine Tasse Milch. Mit heißer Schokolade kann man mich ganz gut bestechen." "Alkohol?" Sie schüttelte nur den Kopf. Er sah sie erstaunt an: "Gar nicht? Auch nicht, wenn du etwas einfach nur vergessen willst?" "Nein, nie. Ich habe gern einen klaren Kopf", antwortete sie und zuckte mit den Schultern. Sie hatte gern einen klaren Kopf und verzichtete dafür auf jegliche legalen und illegalen Drogen, während er sich alles mögliche reinzog, um einen klaren Kopf zu bekommen. Welch Ironie. "Wie gehst du dann mit Schmerz um? Damit, wenn der Kopf viel zu voll ist?", fragte er verwundert. Sie zögerte kurz und sagte schließlich nur: "Ich habe da meine eigenen Methoden." "Gesündere?" "Teilweise." Er hätte gern nachgefragt, was sie meinte. Was könnte denn ähnlich ungesund sein wie das, was er machte? Aber er sollte vielleicht erstmal selbst aufmachen, bevor er das von ihr verlangte. Also nickte er nur knapp und machte sich auf den Weg in die Küche, um ihr und sich ein Wasser zu holen. Würde ihm auch mal ganz gut tun.

Odyssee |Capital Bra & Samra|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt