Karussell

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Lia lief an diesem Morgen eindeutig zu schnell über den Strand. Jeder Atemzug brannte inzwischen in ihren Lungen und sie merkte, wie ihre Muskeln langsam zu machten. Aber sie wollte noch nicht stehen bleiben. Brauchte das an diesem Morgen. Sie hatte sich aus dem Zimmer geschlichen, während Vladislav noch geschlafen hatte. Sie hatten den Großteil der Nacht schweigend wach gelegen. Er hatte sich wahrscheinlich nicht getraut, noch etwas zu sagen, und sie war froh darüber gewesen. Weil sie nicht gewusst hatte, was sie dazu eigentlich sagen sollte. Weil ihre Gedanken sich so sehr gedreht hatten und es immer noch taten. Also hatte sie lieber gar nichts gesagt als etwas unüberlegtes, was sie dann nicht mehr zurücknehmen konnte. Manche Dinge konnte man mit keiner Entschuldigung der Welt mehr ausradieren. Das Schweigen dieser Nacht war bedrückend gewesen. So sehr, dass sie mehr als einmal überlegt hatte, einfach zu einem ihrer Brüder zu flüchten. Aber das war aus mehreren Gründen keine gute Idee gewesen: Zum einen hätte sie dann erklären müssen, warum sie nicht bei Vladislav schlief. Zum anderen hatte Benni mit Tristan und Hussein mit Magnus in einem Zimmer geschlafen. Und auch, wenn sie nicht mit Vladislav hatte reden wollen, konnte sie ihn irgendwie auch nicht einfach allein lassen.

Tristan, der plötzlich wieder neben ihr auftauchte, riss sie aus ihren Gedanken: „Li, bleib stehen.“ Automatisch verlangsamte sie ihre Schritte und blieb einige Meter weiter keuchend stehen. Sie stützte sich mit den Händen auf ihren Oberschenkeln ab und versuchte ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Tristan tauchte vor ihr auf und sah sie skeptisch an: „Was ist los mit dir?“ Es hatte sie am Morgen weder überrascht, dass sie ihren großen Bruder mit einem breiten Grinsen und in Sportsachen auf dem Sofa vorgefunden hatte, noch, dass Magnus weit und breit nicht zu sehen gewesen war. Sie war tatsächlich froh gewesen, dass sie nicht allein laufen musste, obwohl sie genug hatte, worüber sie immer noch nachdenken musste. Sie richtete sich langsam wieder auf und antwortete immer noch außer Atem: „Was meinst du?“ „Wollen wir das Spiel jetzt echt spielen oder sagst du mir einfach gleich, was dir auf dem Herzen liegt?“, kam die Gegenfrage von Tristan. Sie seufzte leise, natürlich wusste er, dass etwas nicht stimmte. „Vladislav hat zwei Kinder“, sagte sie schließlich einfach nur, während sie sich zum Meer drehte und auf die Wellen sah. Das hier war nicht ihr Meer, aber es war besser als kein Meer. Es beruhigte sie trotzdem irgendwie und brachte ihr wenigstens ein wenig das Gefühl von Zuhause.

„Was? Wow… das hast du bisher nie erwähnt“, kam es verwirrt von Tristan, der inzwischen neben ihr stand, aber sie und nicht das unruhige Wasser ansah. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht: „Bis letzte Nacht habe ich es auch nicht gewusst.“ Sie sah aus dem Augenwinkel, wie er sie fassungslos ansah und sie war sich ziemlich sicher, dass ihm schon eine ganze Schimpftirade auf der Zunge lag. Aber er schluckte sie herunter und sagte schließlich nur: „Scheiße.“ Auch, wenn sie das Wort nicht mochte, stimmte sie ihm nickend zu. Es war tatsächlich scheiße. „Was denkst du? Lass mich in deinen Kopf“, bat Tristan ruhig. Sie zuckte hilflos mit den Schultern: „Ich weiß es nicht genau. Ich bin enttäuscht, verletzt und vielleicht auch etwas sauer. Er hätte es mir sofort sagen müssen, als klar war, dass sich zwischen uns etwas entwickelt. Ich meine, das verändert einfach alles und es macht mir Angst. Ich bin 22, Tris. Ich habe gar keine Ahnung von Kindern.“ „Du weißt doch, was Mama immer sagt: Niemand hat Ahnung von Kindern, bis er welche hat“, meinte Tristan mit einem leichten Lachen. Lia musste kurz schmunzeln, ehe sie ernst meinte: „Normalerweise sind die aber nicht plötzlich da.“ „Was erwartet er denn jetzt von dir im Hinblick auf seine Kinder?“, fragte ihr Bruder auch wieder ernst. Sie zuckte erneut mit den Schultern: „Keine Ahnung.“

Sie wusste einfach nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie ließ den Blick über die Wellen schweifen und atmete tief durch. Sie musste irgendwie ruhiger werden. Sie war viel zu aufgewühlt. Sie brauchte mehr Kontrolle. Vielleicht war es auch das: Seine Kinder bedeuteten für sie einen riesigen Kontrollverlust. Da war plötzlich ein Faktor in der Rechnung, den sie die ganze Zeit übersehen hatte und der ihr Ergebnis völlig veränderte. Und es waren eben nicht nur die beiden kleinen Jungs. Es war auch die Vergangenheit mit Irina, die ihr Angst machte. Sie war einmal betrogen worden und das war definitiv nichts, was sie nochmal erleben wollte. Aber war das nicht auch irgendwie gemein? Sie hatte ihm bisher vertraut. Trotz der Drogen. Trotz dem Wissen, dass da genug andere Frauen waren, die allein wegen seines Geldes und Status sofort mit ihm schlafen würden. Sie sollte ihn nicht aufgrund seiner Vergangenheit verurteilen und sie wollte es auch nicht. Aber da waren trotzdem neue Zweifel, die sie nicht einfach so abstellen konnte. Warum musste das alles auch so verzwickt sein?

Odyssee |Capital Bra & Samra|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt