Neujahr

129 9 22
                                    

Lia unterhielt sich gemeinsam mit Isi und Tristan mit einigen Kollegen ihres Vaters und ihrem ehemaligen Schulleiter. Ein höfliches, oberflächliches Gespräch. Etwas, was sie schon sehr früh gelernt hatten. Ihr hatte es nie viel ausgemacht. Irgendwie hatten die Leute mit ihr schon immer gern gesprochen. Magnus war dagegen jedes Jahr wieder von diesem Termin genervt, auch, wenn er es inzwischen perfekt überspielen konnte. Wahrscheinlich war das aber der Grund, weshalb er mit ihrem Onkel Johannes mitgegangen war, der Vladislav und Hussein seine Wohnung zeigen wollte. Diese befand sich im Dachgeschoss und wurde von ihm eigentlich so gut wie nie genutzt. Johannes war immer mehr ein guter Freund für sie gewesen als eine Autoritätsperson. Vielleicht lag es daran, dass er noch recht jung gewesen war, als er Onkel geworden war, immerhin lagen zwischen ihm und Konrad zehn Jahre. Jedenfalls rechnete Lia damit, dass die vier noch eine Weile weg sein würden. Kurz dachte sie an die beiden Rapper, die an diesem Tag in Anzughose und Hemd so ganz anders aussahen, als sie es von ihnen kannte. Es stand ihnen gut. Machte sie noch etwas attraktiver. Sie selbst trug das Kleid, das Samra ihr geschenkt hatte. Kurz schweiften ihre Gedanken zu Vladislav Reaktion, als sie sich angezogen hatte:

Vladislav trat hinter sie und begann damit, die Knöpfe zu schließen. „Bin zwar immer noch nicht begeistert, dass Samra so viel Geld für dich ausgibt, aber Geschmack hat er. Du siehst wirklich umwerfend aus", sagte er leise und verteilte sanfte Küsse auf ihrem noch freien Rücken und Nacken. Sofort breitete sich eine Gänsehaut über ihren gesamten Körper aus. Ein leichter, angenehmer Schauer. Sie spürte wie er an ihrer Haut grinste. Natürlich gefiel ihm das. „Vielleicht sollten wir es trotzdem nochmal kurz ausziehen", murmelte er an ihrem Ohr. Oh, das würde sie in diesem Moment wirklich gern tun. Aber ein Blick auf die Uhr machte ihr klar, dass dafür keine Zeit mehr war. So ein Pech. „Du musst mir ja nachher sowieso beim Ausziehen helfen", erwiderte sie leise, ehe sie sich zu ihm drehte, um ihn zu küssen. Er löste den Kuss nach wenigen Sekunden: „Wenn ich bis dahin warten soll, solltest du aufhören mich so zu küssen." Sie sah ihn unschuldig an, obwohl sie genau wusste, was er meinte. Ein amüsiertes Schmunzeln huschte über sein Gesicht, er sagte aber nur: „Komm, dreh dich wieder um. Für die kleinen Knöpfe braucht man ja ewig. Wie hast du das bitte beim Anprobieren gemacht?"

„Hussein hat mir geholfen", antwortete sie möglichst unbekümmert, obwohl ihre Gedanken sofort wieder zurück in der Umkleidekabine wanderten. Das war auch einer dieser Momente mit ihm gewesen, die sich viel zu intim anfühlten. Bei denen eigentlich nichts wirklich passiert war und man trotzdem das Gefühl hatte, etwas Verbotenes getan zu haben. Sie fing Vladislav Blick auf und hatte sofort ein schlechtes Gewissen, obwohl eigentlich wirklich nichts dabei gewesen war. Er hatte ihr nur geholfen, das Kleid zu verschließen. Aber auch da hatte sie eine Gänsehaut bekommen. Nur, weil seine Finger manchmal ganz leicht über ihre Haut gestrichen hatten. Nur eine körperliche Reaktion auf Reizungen. Ganz natürlich. Aber sie wusste, dass das nur ein Teil der Wahrheit war. „Tamam", murmelte er und sah alles andere als glücklich aus. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Es tat ihr weh, den Schmerz in seinen Augen zu sehen, den er versuchte zu verstecken. Vielleicht weil er dachte, dass sie so reagieren würde wie an dem Morgen, an dem er Shindys Handynummer gefunden hatte. Aber das war etwas anderes gewesen. Da hatte sie nicht wirklich verstehen können, weshalb er so eifersüchtig reagiert hatte. Hier schon eher. Sie legte ihm eine Hand an die Wange und sagte leise: „Es waren nur ein paar Knöpfe." Er gab ihr einen Kuss auf den Kopf: „Ich weiß. Alles gut, Baby." Aber sie sah, dass es das nicht war.

Sie seufzte leise. Wahrscheinlich sollten sie darüber nochmal in Ruhe reden. Sie war sich allerdings beinah sicher, dass weder er noch sie das Thema ansprechen würden. Sie wurde davon aus ihren Gedanken gerissen, dass plötzlich eine junge Frau auf sie zugelaufen kam und sie stürmisch umarmte. „Hallo Maus. Wow, ich wusste ja immer, dass ihr Geld habt, aber das hier ist schon wirklich beeindruckend. Ich freue mich so, hier sein zu können." „Lou? Wow, was für eine Überraschung. Was machst du hier?", sie hatte die Frage kaum ausgesprochen, als ihr augenblicklich schlecht wurde. Nein, bitte nicht, flehte sie in Gedanken. Sie sah Tristan an, der wie erstarrt hinter sie sah und in dessen Augen sich Schmerz und Wut einen Kampf lieferten. Sie schloss die Augen, als seine Stimme ruhig viel zu nah hinter ihr ertönte: „Louisa und ich haben Silvester zusammenverbracht und ich dachte, dass du dich bestimmt über sie freuen würdest." „Ich dachte, du hättest heute keine Zeit", kam es angespannt von Tristan, der ihr somit ersparte etwas antworten zu müssen. Sie war heilfroh darüber. Sie brauchte in diesem Moment ihre gesamte Energie, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Nach dem letzten Zusammentreffen mit Louis in ihrer Küche war von ihrer Selbstbeherrschung in seiner Gegenwart nichts mehr übrig. Eineinhalb Jahre Arbeit für nichts.

Odyssee |Capital Bra & Samra|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt