Die zweite Therapiestunde. Es war erst die zweite Therapiestunde. Emily hatte nach der ersten eigentlich schon genug gehabt. Was sollte das denn schon bringen? Es war überflüssig, Emily würde ihren Hass Julia gegenüber nicht runterschlucken, nur weil irgendeine Psychologin es ihr sagte. Sie war schließlich Emily Brown. Niemand sagte ihr was sie tun sollte. Auch Julia hatte an diesen Tag keine Lust auf die Freundschafts-Therapie. Eigentlich wollte sie shoppen. Aber was tat sie nicht alles, um die Freundschaft wiederaufzubauen. Auf der einen Seite wollte die Freundschaft zwischen ihr und Emily wieder reparieren, aber auf der anderen Seite hasste sie Emily auch für all die Dinge, die sie ihr sagte und antat. Die ständigen sarkastischen Kommentare gingen ihr auf die Nerven. Sie vermisste die alte Emily. Die immer fröhlich war und nicht so abweisend.
Gefühlt eine halbe Ewigkeit mussten die beiden Mädchen warten. Was, ziemlich unangenehm für sie war. Sie waren allein in dem Wartezimmer von Dr. Watson und niemand sagte etwas. Emily kam mit der Stille klar. Sie mochte es, wenn es ruhig war. Die Stille beruhigte sie. Laute Geräusche machten sie nur aggressiv, genervter als sonst und nervös. Doch für Julia war es, einfach nur schrecklich. Am liebsten hätte sie Emily angeschrien, dass sie doch mit ihr reden solle. In jeder Situation hatte Emily einen Spruch parat, um Julia zu nerven oder zu ärgern. Warum aber in diesem Moment nicht? Seit dem Vorfall in der Mädchentoilette war Emily nicht mehr in der Schule gewesen. Und dementsprechend hatte sie auch nicht mit Julia gesprochen. Eigentlich war Julia das auch Recht, denn sonst würde sie möglicherweise etwas über die Überraschungsparty sagen und dann wäre jede Vorbereitung umsonst gewesen. Eins der Dinge, die Julia nicht gut konnte, war Geheimnisse für sich zu behalten. Wenn für einen Freund oder eine Freundin eine Überraschungsparty gemacht wurde, wie sollte sie da schon ihren Mund halten. Selbst wenn sie nur in Emilys Gegenwart daran dachte, war es wie Folter für sie. Aber sie beherrschte sich. Behalte es für dich, dachte sie. Du würdest Emily nur wütend machen. Während Julia sich in Gedanken selbst zurückhielt, dachte Emily nur an Essen. Sie hatte einen riesigen Hunger und machte sich schon Pläne, was sie essen konnte, wenn sie Zuhause war. Gerade als sie ihr Handy rausholen wollte, um Charlie zu schreiben, wurde die Tür des Wartezimmers geöffnet und Dr. Watson kam mit einem breiten Lächeln auf die beiden Mädchen zu.
„Guten Tag euch beiden. Na, seid ihr bereit." Wie konnte diese Frau immer so gut drauf sein, dachte Emily. Nervig.
„Wir sind bereit." sagte Julia. Emily verdrehte die Augen. Sie war bereit zu schlafen oder zu essen. Nicht bereit war sie für die Therapiestunde. Beide standen auf und gingen der Psychologin hinterher. Ins Zimmer 1. Mit einem leisen Stöhnen ließ Emily sich in einen der drei Stuhle sinken, die in dem Raum standen. Die drei Stuhle stand vor einem kleinen Tisch, auf dem sich drei Gläser Wasser befanden. Zwei der Stühle standen nebeneinander. Diese waren für Julia und Emily. Der dritte Stuhl stand parallel zu den zwei anderen. Abgesehen von einem Bücherregal und einem Schreibtisch mit Computer, gab es nichts anderes im Zimmer 1. In ihrer ersten Therapiestunde hatte Emily teils enttäuscht, teils sarkastisch gefragt, wo denn die Couch stand. Julia hatte sich mindestens zehn Mal für Emilys Verhalten entschuldigt und ihr böse Blicke zugeworfen.
„Also, wie geht es euch beide denn heute?" fragte Dr. Watson. Immer noch lag ein breites Lächeln auf ihren Lippen. Julia erwiderte ein Lächeln und erzählte der Psychologin wie es ihr ginge. Ebenfalls erzählte sie ihr was in der letzten Woche alles passiert war. Als sie fertig war, sahen beide erwartungsvoll zu Emily. Diese schaute die ganze Zeit aus dem Fenster. Alles war für sie interessanter als Julia und ihr Gerede. Sie bemerkte, dass sie beobachtet würde.
„Hm?" machte sie während sie ihren Kopf zu der Psychologin drehte. Wie es ihr ginge? Perfekt. Sie vermisste Hailey wie verrückt, sie war in der Mädchentoilette zusammengebrochen. Sie hatte, wegen ihrem ständigen Stress, einen Hörsturz bekommen am Wochenende und musste zu allem Überfluss in diesem Raum sitzen, obwohl sie lieber zum Boxen gegangen wäre.
„ Alles gut." gab sie halbherzig wieder und sah erneut aus dem Fenster. Das Wetter war nass und kalt. Typisch für Oktober. Aber Emily liebte es. Sie liebte dieses kalte Wetter und den Oktober.
„Habt ihr in der letzten Woche Fortschritte in eurer Freundschaft gemacht?" Emily wurde aus ihren Gedanken gerissen. Gott ist das nervig, dachte sie.
„Ich hatte eine Panikattacke und Julia hat mir geholfen. Ist das ein Fortschritt." antwortete Emily, ohne einen der beiden anderen Personen anzusehen. Doch sie konnte sich den Gesichtsausdruck der Psychologin vorstellen. Dr. Watson war eine Frau mittleren Alters mit schulterlangen grauen Haaren. Was Emily ziemlich verwirrt. Wenn sie mittleren Alters war, wieso hatte sie dann nur graue Haare? Emilys Mutter war ungefähr im gleichen Alter und ihre Haare waren noch braun.
„Hast du sie denn gelassen?" Was eine unglaublich dämliche Frage, dachte die Brünette.
„Naja, ich konnte mich ja schwer wehren."
„Wie kam es denn dazu, Emily?" Na super, jetzt soll ich der auch noch erzählen wie es dazu kam, dachte Emily. Mit einem Augenverdrehen sah das braunhaarige Mädchen zu der Psychologin. Nachdem sie leise aufstöhnte, erzählte Emily wie es dazu kam. Dr. Watson hörte aufmerksam zu und sah ab und zu Julia an, die ziemlich überrascht davon war, dass Emily die Geschichte neutral, ohne eine negative Bemerkung über Julia erzählte. Sie erzählte es, als wäre sie ihr sogar dankbar.
„Das ist ein großer Fortschritt für euch. Weiter so." Dr. Watson lächelte die beiden Mädchen wieder an. Es nervte Emily. Dieses Lächeln nervte sie. Normalerweise möchte sie ein angenehmes Lächeln. Aber das Lächeln auf den Lippen der Psychologin war eher gezwungen. Und das nervte Emily. Wenn man nicht lächeln wollte, dann sollte man es auch nicht tun. Man musste nicht immer gut drauf sein, immer lächeln.
„Ja, wir sollten so etwas jede Woche machen. Findest du nicht auch?" fragte Emily sarkastisch. Obwohl sie sich über das Lob von Dr. Watson lustig machte, lächelte diese weiterhin. Überraschenderweise musste Julia über die Bemerkung von Emily ein wenig lachen. Als Emily das bemerkte, schmunzelte sie. Sie hasste zwar so gut wie jeden Menschen und wollte nicht lustig sein, aber sie mochte es Menschen zum Lachen zu bringen. Auch wenn sie so gut wie jede Sekunde genervt, hungrig oder schlecht drauf war. Wieder musste Emily an Essen denken und ihr Magen fing an laut zu knurren.
„Da hat wohl jemand Hunger." Erneut dieses Lächeln.
„Apropos Hunger. Emily, wie läuft es mit dir und dem Essen? Ist es besser geworden?" Dr. Watson dachte, dass Emily eine Essstörung hatte, weil sie so dünn war und in der letzten Zeit wenig gegessen hatte. Der Grund dafür war nicht, dass Emily mit ihrem Körper nicht zufrieden war. Es lag daran, dass Emily sich durch das ständige Essen von Fertiggerichten den Magen verdorben hatte und eine Zeit lang nicht wirklich gegessen hatte. Dr. Watson hatte das aber nicht richtig verstanden und war der Meinung, Emily würde wegen dem Unfall sich weigern zu essen. Natürlich hatte Emily versucht ihr zu erklären, dass es nicht daran lag. Aber es war als würde sie gegen eine Wand reden.
„Ich habe mir nur den Magen verdorben. Weder habe ich eine Essstörung, noch bin ich magersüchtig. Ich hatte, einfach nur einen verdorbenen Magen. Sie, als Psychologin müssen doch wissen, was dann passiert. Einem ist schlecht, der Magen tut weh, man ist nicht großartig viel." erklärte Emily. Wie es sie nervte, ständig von allen umsorgt zu werden. Wie geht es dir? Wie kommst du mit allem klar? Bekommst du Hilfe? Ihr ging es den Umständen entsprechend, sie kam super klar und ‚Hilfe' bekam sie irgendwie auch. Es war nicht so als wäre Emily ein Psychopath, der dringend Hilfe braucht.
„Emily, ich, als deine Psychologin, mache mir nur Sorgen um deine Gesundheit. Du kannst uns alles erzählen. Wir sind nicht nur hier, um eure Probleme aus der Welt zu schaffen. Wir sind auch hier um uns um euch zu kümmern. Zusammen. Wir drei. Glaubst du, du schaffst es in dieser kleinen Gemeinschaft dich mit einzubinden und deinen Beitrag dazu zu tragen?" Wo bin ich hier nur, fragte Emily sich. Langsam kam sie sich, wirklich vor als wäre sie psychisch krank.
„Ich werde es versuchen." murmelte sie und sah Julia aus dem Augenwinkel an. Diese lächelte. Emily hasste sie mehr als alles andere auf der Welt, aber trotzdem hatte Julia ein angenehmes Lächeln. Früher musste Julia sie nur einmal anlächeln und schon war die Welt wieder in Ordnung. Früher. Heute machte ihr Lächeln sie, einfach nur sauer. Obwohl es so angenehm war. Plötzlich klingelte das Telefon. Es war dieser typische Ärzte-Klingelton, wie Emily ihn nannte. Dr. Watson stand entspannt auf und ging zum Hörer. Während des Gesprächs wurde ihr Gesichtsausdruck besorgter.
„Ich verstehe, ich werde sofort kommen." mit diesem Satz legte sie auf.
„Es tut mir leid, aber ich muss die Stunde hiermit beenden. Meine Tochter hatte in der Schule einen kleinen Unfall."
„Die hat Kinder?" murmelte Emily leise. Doch Julia hörte Emilys Kommentar und trat ihr mit aller Kraft auf den Fuß. Die Brünette stöhnte vor Schmerz auf.
„Herr Gott." brummte sie und hielt sich ihren Fuß. Julia sprang auf und gab der Frau die Hand.
„Wir sehen uns dann nächste Woche, Dr. Watson." Höflich verabschiedete Julia sich.
„Verabschiede dich gefälligst." flüsterte Julia Emily zu, als diese von ihrem Stuhl aufstand. Sie verdrehte wieder die Augen.
„Ja ja, tschüss." brummte sie. Julia trat ihr erneut mit Kraft auf den Fuß.
„Bis nächste Woche." fügte sie hinzu. Immer noch sah Julia sie auffordernd an.
„Dr. Watson." Die Psychologin machte den beiden Mädchen die Tür auf und wie der Blitz lief Emily zum Kleiderständer, um sich ihre Jacke anzuziehen. Mit einem schnellen Blick auf ihr Handy sah sie nach, ob Thomas ihr geschrieben hatte. Er hatte ihr geschrieben.
„Tommy holt uns ab." verkündete sie halb glücklich, halb genervt. Sie war glücklich nicht zu Fuß gehen zu müssen, war aber auch genervt, dass sie Julia mitnehmen mussten. Doch das interessierte Julia wenig. Langsam, aber sicher verlor auch sie das Interesse an der Freundschaft. Warum sollte man versuchen etwas zu reparieren, wenn man weiß es wird nichts bringen. Egal was sie tat. Wie viele Schritte sie auf Emily zu gehen würde. Emily würde immer einen Schritt zurück gehen. Weil sie es nicht wollte. Sie wollte die Freundschaft nicht. Es war ihr egal. Am liebsten würde sie gar nicht mit Julia reden. Und dieser war das auch klar.
„Kommst du?" fragte Emily. Julia stand nur da, hielt ihre Jacke in der Hand und sah ins Nichts. Sie blinzelte ein paar Mal, während Emily mit ihrer Hand vor ihrem Gesicht herumfuchtelte.
„Hallo?"
„Hm?"
„Ist die Prinzessin denn jetzt soweit um von Thomas abgeholt zu werden? Er wartet unten." Ohne ihr eines Blickes zu würdigen ging sie an Emily vorbei. Sie hasste es, wenn Emily sie Prinzessin nannte. Kaum waren sie draußen angekommen, zündete Emily sich schon eine Zigarette an. Julia verstand nicht wie Emily so viel rauchen konnte. Sie hatte sich langsam daran gewöhnt, dass Emily rauchte, aber warum musste es so viel sein.
„Musst du dir jetzt schon sofort eine Zigarette anzünden?" fragte sie genervt. Das braunhaarige Mädchen schmunzelte frech. Ihre grünen Augen hatten wieder dieses leuchten. Entweder waren ihre Augen kalt, voller Hass und Traurigkeit. Oder sie hatten dieses Leuchten und waren voller Leben. Manchmal machte es Julia Angst, obwohl sie die Emily, die gut drauf war und lachte, mehr mochte als, die Emily, die sie nun war. Voller Trauer, Hass, Rücksichtslosigkeit.
„Machst du dir Sorgen, Prinzessin?" fragte sie und nahm einen langen Zug.
„Nach all dem Stress, denn ich durch euch habe, ist das das einzige, was mich noch beruhigt."
„Erstens, nenn mich nicht Prinzessin. Und zweitens wen meinst du mit euch?" Emily nahm erneut einen langen Zug bevor sie Julias Frage beantwortete.
„Na Thomas, Connor und dich." sagte sie und blies dabei den Qualm aus.
„Wenn wir dich so nerven, wieso bist du dann mit uns befreundet?" Emily lachte. Das ist tatsächlich eine gute Frage, dachte sie.
„Also erst mal sind wir beide wohl eher weniger Freunde. Wir machen nur was, weil meine Freunde leider auch deine Freunde sind. Und Thomas hält mich davon ab jeden umzubringen, der mich aufregt. Mit Connor kann man verdammt viel Spaß haben. Und in meinem traurigen Leben kann ich das gut vertragen."
„Dein Leben ist nur so traurig, weil du es traurig machst." gab Julia wieder. Emily spannte ihren Kiefer an. Warum war Thomas noch nicht da? Sie konnte sich selbst oft nur schwer kontrollieren. Wenn Thomas da war wusste sie, dass sie jemand davon abhalten würde einen unüberlegten Fehler zu machen.
„Willst du mich verarschen?" Sie war den Zigarettenstummel auf den Boden und trat drauf. Julia konnte sich denken, dass Emily sich dabei sie vorstellte. Sie konnte genau sehen, dass Emily sie versuchen würde umzubringen, wenn sie weiterreden würde. Thomas war noch immer nicht da, also gäbe es niemanden der Emily aufhalten würde sie umzubringen.
„Vergiss es." sagte sie schnell. Emily grinste.
„Du hast ja ganz schön Angst bekommen, Prinzessin." Julia zog die Augenbrauen zusammen. Schon wieder hatte sie sie so genannt.
„Erstens, nein hatte ich nicht. Und zweitens hör auf mich Prinzessin zu nennen." Log sie. Sie hatte Angst vor Emily. Es lag daran, dass man ihr alles zutrauen konnte. Es ist schlau Angst vor Emily zu haben, wenn man nicht dumm war, sagte Connor immer. Julia gab ihm da so recht.
„Aber du bist doch eins von diesen Mädchen, die pink mögen, gerne shoppen, sich schminken. Eine Prinzessin halt. Du weißt, was du willst und du weißt, wie du es bekommst. Solange dein Diadem richtig sitzt ist die Welt in Ordnung, nicht wahr Prinzessin." Und schon wieder grinste Emily sie an.
„Ich hasse dich." Diese drei Worte ließen Emily nur noch mehr grinsen.
„Endlich, endlich sprichst du es aus. Das ist ein Fortschritt in unserer Feindschaft. Wir sollten es umgehend Dr. Watson sagen." Emilys Sarkasmus machte sie sauer. Dass sie anstatt Freundschaft, Feindschaft gesagt hatte machte Julia sauer. Dass Emily in ihren Augen so ein Arsch war, machte sie sauer.
„Dein Sarkasmus ist so unausstehlich." Beide hörten die Reifen eines Autos. Thomas war endlich gekommen. Doch Emily ließ sich nicht von dem was Julia sagte beeindrucken. Diese ging in die Richtung von Thomas' Bugatti.
Zum Teil interessierte es Emily nicht, dass Julia sie hasste, aber zum Teil regte es sie jedoch auf. Denn in ihren Augen hatte sie dazu kein Recht. Sie war es damals gewesen, die alles kaputt gemacht hatte.
„Kommst du endlich?" rief Thomas in Emilys Richtung. Zähneknirschend ging sie zum Auto. Sie wollte nur noch nach Hause.
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Kinda friends
Teen FictionEmily Brown und Julia Young waren beste Freunde solange sie denken konnten. Bis ein tragisches Ereignis alles ändert. Nun kann Emily nicht aufhören Julia zu hassen. Doch Emily's bester Freund Thomas kann das nicht hinnehmen und steckt die beiden in...