2 Wochen später
Emily warf kleine, ganz kleine Steine gegen Haileys Grabstein. Es war respektlos von ihr. Das war ihr bewusst. Sie schämte sich dafür, aber zum Teil war es ihr auch egal. Was sollte Hailey schon machen? Sie war nicht mehr.
„Tut mir leid, aber du weißt doch wie ich bin. Ich kann es nicht sein lassen." sagte Emily zu dem grauen Grabstein. Erneut warf sie einen kleinen Stein, jedoch verfehlte sie Haileys Stein und traf dafür einen Grabstein dahinter. „Sorry." rief sie leise. Sie entschuldigte sich bei einem Grabstein. Wie verrückt konnte sie noch werden? Sie lehnte an einen Baum, vor einem Grabstein, auf einem Friedhof. Und weil das noch nicht schräg genug war, sprach sie auch noch mit den Grabsteinen. Hinter sich hörte sie Schritte. Es interessierte sie nicht großartig und weiterhin warf sie kleine Steine.
„Na, redest du wieder mit Grabsteinen oder wirfst du sie nur ab?" Emily sah auf zu der Stimme, die mit ihr redete. Julia. In ihrer Hand hielt sie eine einzige Blume. Eine rote Rose. Was machte sie hier? Sie lächelte Emily an, aber Emily lächelte nicht zurück. Ihre Anwesenheit störte sie. Immerhin wollte sie allein sein. Julia drehte sich zu Haileys Grabstein und legte die Rose auf ihr Grab. Ohne zu fragen, setzte sie sich neben das braunhaarige Mädchen.
„Was machst du hier?" fragte Emily genervt. Soweit sie wusste, hatte Julia keine Angehörigen, die auf dem gleichen Friedhof beerdigt worden waren wie Hailey.
„Ich bin wegen Hailey hier. Ich wollte ihr, Blumen bringen. Es ist doch schließlich...du weißt schon...ihr...ihr-"
„Ihr Todestag. Sag es einfach Julia." Tränen bildeten sich in Emilys Augen. Ihr Todestag. Sie war nicht mehr da. Sie hatte Emily allein gelassen. Einfach zurückgelassen. Mit dem Handrücken wischte Emily sich die Tränen aus den Augen. Julia wollte gerade ihren Arm um Emilys Schultern legen, doch diese wich zurück.
„Wir hatten das Thema mit dem Körperkontakt doch schon mal." Julia zwang sich ein Lächeln auf. Wenn Emily mal von allein Julia in den Arm nehmen würde, würde dieser Tag in die Geschichte eingehen. Aber Julia war sich sicher, dass Emily sie niemals wieder umarmen würde. Nicht mal wenn ihr Leben davon abhängen würde.
„Du hast deinen Geburtstag gar nicht gefeiert." sagte Emily, ohne das Mädchen neben sich anzusehen. Tatsächlich hatte Julia nicht ihren Geburtstag gefeiert. Was ihr nicht ähnlich sah. Normalerweise war für Julia alles ein Grund zum Feiern. Aber irgendwas in ihr wollte einfach nicht und hatte sich mit aller Kraft gegen eine Party gewehrt.
„Ich...ich fand es respektvoller Hailey gegenüber, mal nicht zu feiern." Emily lachte leicht.
„Sie ist tot Julia, es interessiert sie herzlich wenig, ob du dich mit deinen Mädels betrinkst oder nicht." Julia schluckte und hielt den Mund. Lange herrschte Stille zwischen den beiden.
„Sie ist jetzt zwei Jahre tot." sagte Emily auf einmal. Zwei Jahre. Vor zwei Jahren war alles in Emilys Leben den Bach runtergegangen. Die Freundschaft zwischen den beiden Mädchen war vor zwei Jahren zu Bruch gegangen. Alles war vor zwei Jahren passiert. Julia kam es gar nicht so lange vor. „Manche würden sagen, wie schnell die Zeit doch vergangen ist. Aber das ist sie nicht. Im Gegenteil. Sie vergeht so langsam. Die Zeit heilt alle Wunden. Wie kann die Zeit eine solch tiefe Wunde heilen. Wie? Man vergisst mit der Zeit nur. Alle haben sie vergessen. Die ganze Stadt. All ihre Freunde. Ihre Familie. Es ist nur noch eine Geschichte, die man sich erzählt. Die Geschichte eines tapferen Mädchens, das für die starb, die sie liebte." Emily starrt Haileys Grabstein an. Sie erinnerte sich an ihr Gesicht. An ihre braunen langen Haare. Ihre leuchtenden grünen Augen, voller Liebe, Hoffnung und Zuversicht. Ihr strahlendes Lächeln, das einfach ansteckend war. Ihre definierte Kieferlinie, die die meisten schwach werden ließ. Sie war wunderschön gewesen. Wahrscheinlich hätte Natalia sich sofort in sie verliebt, dachte Emily. Hailey war die Freude in Person gewesen.
„Und jetzt sagen doch tatsächlich manche Leute, dass ihre kleine Schwester durch ihren Tod sich verändert hat. Dass sie jetzt anders ist, kalt geworden und zerstört ist. Man redet hinter ihrem Rücken. Sie tun so als machen sie sich Sorgen. Aber wenn sie nicht da ist, dann sagen sie, sie ist psychisch labil. Ich verstehe nicht, wieso sie sich nicht trauen es ihr ins Gesicht zu sagen. Diese Feiglinge. Sie verstehen gar nichts. Keiner hat eine Ahnung wie es sich anfühlt. Wie sehr dieser Schmerz brennt. Wie sehr sie leidet." Es lief Julia kalt den Rücken runter. Sie bekam richtig Angst, wenn Emily so redet. Dass Emily manchmal poetisch war, wusste sie. Aber in diesem Moment machte es ihr einfach Angst.
„Es ist so gruselig, wenn du so über dich redest." Emily musste lachen. Da musste sie ihr Recht geben, es war schon gruselig. Erneut wischte das braunhaarige Mädchen sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Sie haben sie vergessen Julia, sie alle haben Hailey einfach vergessen." sagte sie und lehnte ihren Kopf gegen den Baumstamm. Alles was Julia tat, war nicken. Was sollte sie schon tun? Emily anlügen? Fast jeder hatte sie vergessen. Hailey war nur noch eine Geschichte. Eine Erklärung. Die Erklärung warum Emily so kalt war.
„Es ist ihr Todestag. Keiner kam. Ich bin den ganzen Tag hier gewesen. Den ganzen verdammten Tag. Keiner kam." Es herrschte Stille. Emily sah in den grauen dunklen Himmel. Es war schon sehr spät und Julia hatte ein wenig Angst so spät auf einen Friedhof zu sein. Aber sie wandte ihren Blick nicht von Emily ab. Sie musterte ihr Gesicht ganz genau. Emily hatte große Ähnlichkeit mit Hailey. Sie hatten die gleichen hellen grünen Augen. Die gleichen braunen Haare. Die gleiche definierte Kieferlinie. Vielleicht war es das, was Emily so fertig machte. Dass sie so große Ähnlichkeit mit Hailey hatte. Julias Blick blieb bei Emilys Narben hängen. Die Narben, die Emily mit jeder Zelle ihres Körpers hasste. Vielleicht sogar mehr hasste als Julia.
„Vielleicht sollte ich auch anfangen sie zu vergessen." sagte Emily plötzlich.
„Was?" fragte Julia. Hatte sie richtig gehört? Emily konnte sie doch nicht einfach vergessen. Sie stand auf und wollte gehen.
„Sie ist tot. Daran kann ich nichts ändern. Wie du damals gesagt hast, ich sollte nicht immer-"
„Sag es nicht. Ich weiß was ich damals gesagt habe." Mit ernster Miene sah Emily sie an. Ihre Augen wie immer leer und ohne Emotionen. Julia erinnerte sich an den Tag, an dem sie die Freundschaft zwischen ihr und Emily zerstört hatte.
„Gut. Es ist gut, dass du es noch weißt." Es lag so viel Hass in Emilys Stimme, dass Julia am liebsten losgeweint hätte.
„Ich hoffe, du wirst es niemals vergessen." Mit langsamen Schritten ging sie in die Richtung der Kapelle in der Haileys Beerdigung stattgefunden hatte. Julia sprang auf.
Würde Emily einfach so gehen? Einfach so vergessen?
„Sie war deine Schwester, Emily." rief Julia ihr hinterher, aber Emily drehte sich nicht um.
„Ja, sie war es." rief sie zurück. Wie konnte sie so kalt sein. Hailey war ihr immer wichtig gewesen. Und auf einmal fing sie an sie zu vergessen. Es machte Julia so wütend. Tränen der Wut liefen über ihre Wangen.
„Sie hat dir das Leben gerettet. Sie ist für dich gestorben. Wie kannst du nur so egoistisch sein?" schrie sie, ihre Stimme brach ein wenig. Sofort blieb Emily stehen. Schnell drehte sie sich um und ging bedrohlich auf Julia zu.
„Ich bin egoistisch? Ich? Ich bin jeden Tag hierhergekommen, ich habe jeden Tag an sie gedacht, jede freie Sekunde! Nie habe ich sie vergessen! Glaubst du es macht mich nicht fertig? Dass sie für mich sterben müsste? Ihr Blut klebte an meinen Klamotten. Ihr Blut klebte an meinen Händen. Alles was ich davongetragen habe, sind diese beschissenen Narben. Diese Narben, die mich immer daran erinnern werden, dass sie meinetwegen gestorben ist. Meine Schwester ist wegen mir jetzt tot. Und es ist meine Schuld. Damit muss ich jeden Tag meines Lebens leben. Dass ich an allem die Schuld trage." Emily schrie und weinte und fiel Julia einfach in die Arme. Sie hatte keine Kraft mehr. Alles war ihre Schuld. Emily war der festen Überzeugung. Julia hielt sie so fest sie konnte. Damals hatte sie verpasst eine gute Freundin zu sein. Damit wollte sie es wieder gut machen.
„Sie ist wegen mir tot. Hailey ist meinetwegen gestorben." sagte sie immer wieder und weinte dabei in Julias Schulter. Langsam, ganz vorsichtig strich Julia ihr über den Kopf. Das war ihr einziger Gedanke. Dass ihre Schwester wegen ihr tot war. Keiner sagte noch etwas. Julia und sie knieten auf dem Boden und es war ihnen egal, ob ihre Hosen dreckig wurden oder nicht. Ihren Kopf lehnte Emily an Julias Schulter.
„Und du hast es damals einfach nur noch schlimmer gemacht, mit dem was du gesagt hast." flüsterte sie. Julia gefror das Blut in den Adern. Sie hatte Recht. Anstatt für ihre beste Freundin da zu sein, hätte Julia alles nur noch schlimmer gemacht. Ohne dabei an Emilys Gefühle zu denken. Emily sah auf. Direkt in Julias braune Augen. Julia war erschrocken, wie rot Emilys Augen waren.
„Und das werde ich dir niemals verzeihen. Egal wie sehr du mich tröstest. Wir sind nicht mehr die Freunde von früher. Ich hasse dich immer noch, Julia." Emily stand auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und hatte wieder ihre typische emotionslose Miene auf dem Gesicht. Sie war wieder die kalte Emily. Ohne noch etwas zu sagen ging die Braunhaarige endgültig.
„Ich war immer für dich da." rief Julia ihr hinterher. Emily steckte ihre Hände in die Taschen ihrer schwarzen Jeansjacke.
„Ich bin jetzt auch für dich da. Ich versuche noch etwas von unserer Freundschaft retten. Ich versuche wenigstens meine Fehler wieder gut zu machen. Dir ist das ganze völlig egal. Nur wegen einer einzigen Sache, die ich getan habe und die mir unendlich leidtut." Emily ballte ihre Hände zu Fäusten. Die ganze Zeit dachte sie an diesen einen Tag. Den Tag an dem Julia diesen einen Fehler gemacht hatte. Die Worte, die sie gesagt hatte, hallten in ihrem Kopf. Sie wollte, dass es aufhörte.
„Du wirst mich nicht mit deiner kalten Seite los, Emily Brown. Ich bin immer ein Teil deines Lebens."
Sie hatte Recht. Emily wurde Julia nicht los. Egal was sie tat. Immer war Julia da.
„Vielleicht solltest du endlich mal aufhören in der Vergangenheit zu leben. So wie du dich verändert hast, habe ich mich auch verändert. Denk mal darüber nach." Mit schnellen Schritten ging Julia an der braunhaarigen vorbei. Hinter sich ließ sie eine Emily, die etwas wie Schuldgefühle empfand. Ohne wirklich zu wissen warum.
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Kinda friends
Teen FictionEmily Brown und Julia Young waren beste Freunde solange sie denken konnten. Bis ein tragisches Ereignis alles ändert. Nun kann Emily nicht aufhören Julia zu hassen. Doch Emily's bester Freund Thomas kann das nicht hinnehmen und steckt die beiden in...