Ächzend wuchtete ich den mittlerweile vierten Karton auf die Theke. Es schepperte laut im Inneren. Schnaufend schob ich mir ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht und klappte ihn auf. Nicht schon wieder. Haufenweise Besteck, Teetassen und Bücher stapelten sich, bedeckt mit einer fetten Staubschicht.
Zweifelnd blickte ich hinüber zu dem frisch eingerichtetem Regal. Trotz dass sich bis jetzt nur die Inhalte dreier Kartons darin befanden, war es schon bis zum Rand befüllt. Das wird niemals alles da rein passen. Ich fing an, den Kartone auszuräumen und die Tassen so auf dem Tisch zu positionieren, dass man nicht mehr befürchten musste, dass sie jeden Moment umfliegen würden. Währenddessen schweiften meine Gedanken etwas ab.
Gus hatte mich heute Morgen gleich nach dem Frühstück nach unten in den Laden geschickt, um alles zu säubern und aufzuräumen. Außerdem sollte ich gleichzeitig auch die Stellung an der Kasse halten, da er mit Daisy oben blieb und sich einen Tag Auszeit nahm. Mir war das nur recht, schließlich hatte er bis jetzt ziemlich viel für uns getan, trotz der kaputten Hüfte. Sein Blick heute Morgen hatte ziemlich verwirrt ausgesehen, als ich mit Daisy auf dem Arm in die Küche spaziert war, dennoch hatte er nicht eine einzige Frage gestellt und hatte auch nicht reagiert, als Daisy sich kurzzeitig mal über den Rummel im Geschäft gegenüber gewundert hatte.
Er war einfach nur sitzen geblieben und hatte gelächelt. Vielleicht wusste er es. Vielleicht auch nicht. Ich holte den Staubwischer aus der Schublade hervor. Früher oder später würde er es sowieso erfahren, schließlich waren er und Jamiro's Mum fast Nachbarn. Jamiro... Er geisterte mir schon den ganzen Tag im Kopf herum. Warum war er so schnell da gewesen? Woher wusste er was passiert war? Und warum hatte er so Angst vor seiner Mum? So schlimm kann sie doch nicht sein, wenn der Tod die meist gefürchteste Person auf dieser Wolke ist, oder? Außerdem konnte ich mir irgendwie nicht vorstellen, dass, bei einem so sympathischen Jungen, die Mutter so unsympathisch war. Irgendwoher musste er ja seine Manieren herhaben.
"Danke, ich nehm das einfach mal als Kompliment." Vor Schreck ließ ich fast die kostbare Porzellantasse fallen, die gerade eine Vollreinigung vom Feinsten erhalten hatte. Mit rasendem Herzen drehte ich mich zu ihm um. "Das nächste Mal klingelst du gefälligst!" Sofort bemerkte ich den Fehler in meinem Satz. Wütend starrte ich den Boden vor der Tür an. Sollte es nicht eigentlich klingeln, sobald jemand diese Fläche betritt? Anscheinend muss hier vieles geputzt und renoviert werden.
Sofort verflog mein Ärger. Gus hatte es nicht verdient, dass ich ihn jetzt deswegen verurteile. Er hatte schließlich vor mir niemanden gehabt, der ihm im Laden half. Um mich abzulenken blickte ich wieder in das Gesicht des hübschen Jungen neben mir. Er begutachtete gerade eines der Bücher und las die erste Seite. Sobald er bemerkte, dass er beobachtet wurde, klappte er es zu und hob den Kopf. Wieder hatte ich das Gefühl, dass seine braunen Augen direkt in meine Seele blicken konnten.
Schnell wandt ich mich ab und beschäftigte mich damit, das Besteck zu ordnen und die Tassen von der einen auf die andere Seite zu schieben. Er brachte mich ganz durcheinander und so wie es aussah, wusste er das. Ob vom Gedankenlesen oder meiner Gestik - bei beidem war es offensichtlich.
Er begann zu sprechen. "Du hattest Glück, dass meine Mutter heute nicht so aufmerksam war, sie hätte dich fast gesehen." Schweigend hielt ich in meinem Getue inne und dachte über diese Worte nach. Was wäre daran so schlimm gewesen wenn sie mich gesehen hätte? Ich hätte immer noch eine plausible und ehrliche Erklärung auf Lager, die der absoluten Wahrheit entsprach. Warum also stellte Jamiro mich so da, als wäre ich der Dieb gewesen? Warum betonte er das "heute" so, als würde bei seiner Mutter häufiger eingebrochen werden? War das etwa alltäglich? Kam diese kleine Gestalt etwa öfter vorbei um zu stehlen? Und niemand merkte es?
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Dead Days
Fantasy》Mein Atem wurde immer weniger. Meine Augenlider wogen Tonnen. Nein Seraphina! Du schläfst jetzt nicht ein! Bleib wach!, ermahnte ich mich selbst. Aber es war so schwer... Mit verschleiertem Blick beobachtete ich meine Eltern und meine Schwester. Im...