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Sicht Roxanne

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist es zwar schon spät, aber ich fühle mich als hätte ich nur zwei Stunden geschlafen. Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen bin, aber es war nicht früh, so viel steht fest. Ich lag die halbe Zeit wach, habe überlegt was mit mir los ist und habe mir Vorwürfe gemacht, warum ich wie eine Verrückte mit der Situation umgehe. Immerhin ist Polly nicht tot, und ich habe keine Berechtigung dazu, so zu tun als wäre sie es.

Langsam stehe ich auf, aber ich kann nichts gegen die Kopfschmerzen machen, die mir augenblicklich entgegen kommen. Stöhnend greife ich nach einem Glas Wasser, dass ich gestern auf meinem Tisch abgestellt habe, und werfe mir eine Aspirin ein. Während ich darauf warte, dass sie wirkt, ziehe ich mir frische Sachen an. Zugegeben, es sind nicht die feinsten Sachen die ich habe, aber die brauche ich auch nicht. Kurz überlege ich, ob ich heute wirklich zur Arbeit soll, entscheide mich dann aber dazu, mir einen freien Tag zu genehmigen. Die nächsten zwei Tage habe ich zwar eh frei, aber heute kann ich nicht zur Arbeit, so viel steht fest, also schnappe ich mir mein Handy und rufe in der Klinik an.

Meine Chefin glaubt mir und will auch kein Attest sehen - das wundert mich zwar ein bisschen, aber ich lasse es sein, nachzufragen. Stattdessen gehe ich in meine Küche und mache mir was zu essen. Im Hintergrund lasse ich Musik laufen, was dazu führt, dass meine Gehörgänge mit Circa Waves geflutet werden, während ich meine Spiegeleier brate. Erst, als ich die Pfanne vom Herd nehme, fällt mir auf, dass ich die doppelte Portion gemacht habe, als wenn Polly hier wäre und auch etwas essen wollte. Auf einmal fällt mir an allem, was ich sehe, irgendeine Erinnerung an Polly ein, und ich beginne mich zu fragen, ob ich sie jemals wieder erleben kann. Und wenn ja, wie lange es noch dauern wird. Eigentlich will ich sie nur wieder haben, wieder jemanden haben, mit dem ich alles teilen kann und den ich einfach im Arm halten kann.

Tränen schießen mir in die Augen, ohne dass ich es kontrollieren kann, und ich schniefe eine Weile vor mich hin, bis mein Handy klingelt. Ich wische mir schnell über die Augen, und trinke einen Schluck, dann hebe ich ab. Zuerst höre ich nichts, dann aber wird die Stimme am anderen Ende klarer, und ich erkenne Lennard. Trotzdem sage ich nichts, und lasse ihn einfach reden, bis er merkt dass ich schweige.

„Roxanne, ist alles gut bei dir? Hörst du mir zu?" Mist, denke ich und nicke, bis mir einfällt dass er mich ja gar nicht sehen kann. „Ja, klar höre ich dir zu. Und ja mir gehts fantastisch, mir gings nie besser. Glaub mir. Bitte." Leise seufzt er, und sagt dann erstmal gar nichts. Kurz denke ich, er hat aufgelegt und ich hebe skeptisch mein Handy von mir, um zu schauen ob er noch da ist, als ich höre wie er wieder etwas sagt. Kurzerhand schalte ich auf Lautsprecher.

„Ich weiß genau dass es dir nicht gut geht, das höre ich doch. Oder denkst du ich bin dumm? Aber Roxanne, hör mir zu. Ich will, dass du ein paar Sätze mit mir gemeinsam sagst okay? Erstens, du bist nicht schuld an dem Unfall. Zweitens, du bist nicht schuld daran, dass Polly im Koma liegt. Drittens, es ist okay dass es dir nicht gut geht, und es ist okay wenn du das zugibst. Und viertens, es ist okay dass du den teilweise Verlust von Polly so behandelst."

Langsam wiederhole ich die Sätze, und merke dass es wirklich hilft. Lennard lacht, und ich kann jemanden reden hören, der aber nicht Simon ist. Ich runzle meine Stirn, und überlege eine Weile, warum Lennard nicht bei Simon ist. Aber nach ein paar Sekunden beschließe ich, dass es mich nichts angeht, und dass ich warten sollte, bis Lennard es mir selbst erzählt.

„Hey Roxanne...uhm ist es okay wenn ich auflege?" Fragt er, und klingt auf einmal sehr unsicher, was ich irgendwie niedlich finde. „Klar, ist okay. Ciao." Er verabschiedet sich, dann klickt es und die Leitung ist tot. Verzweifelt sehe ich mich in meiner Wohnung um, so lange bis meine Augen wieder nass sind vor lauter Tränen. Alles erinnert mich an Polly, wirklich alles. Ich weiß nicht wie ich es aushalten soll hier drin.

Ich entscheide mich dazu, duschen zu gehen und mir erstmal was zu essen zu machen. Sobald das Wasser über meine Haut läuft, fühle ich mich warm und erstmals wieder willkommen in meinem Leben, dass bis dahin nur ein Chaos war.

Warum habe ich mir keine Hilfe gesucht, frage ich mich während ich mir meine Haare mit Shampoo einschäume. Eigentlich hätte ich nur zur Therapie gemusst, und ich hätte Hilfe bekommen, wann immer ich wollte.

Mist, die Therapie! Schnell Stelle ich das Wasser aus, und trockne mich so schnell wie möglich ab. Ich habe nur noch eine Stunde Zeit um zur Therapie zu kommen, und stecke meine Haare einfach unter eine Beanie.

Die Jeans und das Übergröße weiße Shirt, zeigen wie motiviert ich bin. Normalerweise hätte ich mich extra besser angezogen, damit ich wenigstens den Anschein erwecke, mich okay zu fühlen. Aber jetzt kann ich das nicht, und ich muss es auch nicht. Dort geht es allen wie mir, das weiß ich eigentlich.

Die Jungs sind schon da als ich den Raum betrete, und ich entschuldige mich mit leiser Stimme, dabei bin ich gar nicht wirklich zu spät. Frau Hausladen lächelt mich an, und fordert mich dann auf zu reden. Kurz suche ich nach den richtigen Worten, aber ich muss nicht lange überlegen, bis ich sagen kann was ich denke und fühle.

„Also ich habe mich gefragt, warum ich nicht direkt ehrlich gesprochen habe. Wenn ich daran denke, was ich getan habe, aus Verzweiflung, dann weiß ich gar nicht was mit mir los war. Ich dachte immer dass ich so stark wäre, und keine Probleme hätte.

Aber ich habe gemerkt, dass das nicht so ist. Stark sind nicht die Leute, die niemandem sagen dass es ihnen nicht gut geht. Stark sind die, die es wirklich zugeben und sich Hilfe suchen. Und ich dachte immer, man müsse das nicht, ich dachte man kriegt alles alleine hin.

Aber manchmal kann man das eben nicht, manchmal braucht man Hilfe um klarzukommen, und um besser leben zu können. Ich meine, warum denkt man, dass man schwach ist?"

Alex nickt, und sieht mich lange an.
„Ich glaube es ist, weil man denkt die anderen könnten einen nicht verstehen. Man denkt, sie würden einen abstempeln und sagen dass man ein Loser ist. Eigentlich denkt man gar nicht selbst dass man schwach ist, aber man denkt die anderen finden das schwach.

Und dann denkt man manchmal, dass man einfach nur dumm ist. Weil andere haben ja viel schlimmere Probleme, und man hat Angst dass man sich lächerlich macht. Man sucht sich keine Hilfe, weil man denkt, man nimmt denjenigen die Hilfe weg, die schlimmere Probleme haben. Aber das tut man nicht.

Wenn man sich keine Hilfe sucht, dann wird man selbst zu der Person die noch schlimmere Probleme hat."

Frau Hausladen nickt, und Alex beginnt damit, zu erzählen was er so gemacht hat in den letzten Tagen.

Die Therapie ist endlich vorbei, und ich fühle mich als wäre ich einen Marathon gelaufen, nur emotional gesehen. Normalerweise würde ich jetzt nachhause gehen, und eine Pizza bestellen. Netflix schauen und einfach entspannen, auf meine Probleme klarkommen und mich freuen, dass ich endlich so erfolgreich bin.

Aber ich sehe nur die unzähligen Anrufe auf meinem Handy, die ich verpasst habe. Kurzerhand beschließe ich, die Anrufe abzuarbeiten.

Als ich die mir unbekannte Nummer wieder anrufe, geht ein Mann ans Telefon, der noch sehr jung klingt, und der sich als Herr Schmitt vorstellt. Als er mir sagt wo ich hin soll und warum, setze ich mich direkt in Bewegung zu meinem Schrank.

Schnell ziehe ich mir eine schwarze Jeans, eine weiße Bluse, und einen grauen Blazer über und ziehe meine DocMartens an, bevor ich mich in Bewegung setze.

Nachdem ich dem Taxifahrer einige Minuten später sein Geld in die Hand drücke, steige ich aus. Vor mir steht die JVA Fuhlsbüttel, und ich bewege mich zielstrebig auf den Eingang zu.

Am Eingang werde ich kontrolliert, und mutmaßlich gefährliche Sachen eingezogen, dann werde ich von einem Beamten in den Besucherraum gebracht.
Als ich sehe wer da sitzt, kommt mir fast die Kotze hoch, und ich bin froh dass der Beamte hinter mir steht und mich beschützt.

Ruppig ziehe ich einen Stuhl nach hinten, und schaue in die grau blauen Augen meines Bruders.

1438 Wörter

Fixed (Pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt