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Sicht Lennard

Die Nacht ist kalt, und der Wind weht mir sark und frostig um das Gesicht, sorgt dafür dass sich Tränen in meinen Augen sammeln. Natürlich kommen die Tränen nicht nur von dem Wind, und weil ich ohne erdenklichen Schutz durch die grauen und monotonen Straßen Hamburgs laufe. Sie kommen vor allem wegen Simon, und wegen mir. Denn eigentlich kann ich es ihm nicht verdenken, dass er mich geheim halten will. Er hatte schon ein Outing und wurde daraufhin verstoßen. Jetzt noch eines zu machen, das muss hart sein, vor allem weil er erstmal selbst mit seinen Gefühlen klarkommen muss, die bestimmt nicht leicht sind. 

Und obwohl ich das weiß und es eigentlich verstehe, kann ich meine Wut nicht zurückhalten, als ich nun in die nächste Straße einbiege und meine Kopfhörer in mein Handy stecke. Das Display leuchtet mir in die Augen, und ich muss mich kurz an das helle Licht gewöhnen, das wie ein Leuchtturm in der Dunkelheit erscheint. Während die Musik laut wird, sehe ich, dass ich ungefähr zehn ungelesene Nachrichten und zwanzig verpasste Anrufe habe. Kurz will ich nachsehen, was Simon mir zu sagen hat, kurz habe ich das Bedürfnis ihm zu verzeihen. Aber ich kann nicht, weder antworten noch verzeihen, also stecke ich das Handy zurück und meine Hände in die hinteren Hosentaschen.

Die Kälte wird unerträglich, eigentlich müsste ich nachhause gehen und dort meine Probleme in den Griff bekommen, aber ich will nicht. Den nächsten Anruf nehme ich blind an, ohne zu wissen wer es ist, und warte einige Sekunden bis derjenige am anderen Ende etwas sagt. Kurz höre ich nur jemanden atmen, dann redet derjenige und klingt merkwürdig unsicher. Die Stimme ist verzerrt vom weinen, und augenblicklich bleibe ich stehen, damit ich die Person besser verstehen kann. Kaum bemerkbar fängt die offenbar männliche Person nun an zu reden.

„Lennard es tut mir so leid, ich würde alles dafür tun, das geschehene rückgängig zu machen aber ich weiß dass es nicht geht. Bist du bereit mir zu verzeihen?" 

Ich erstarre in meiner Bewegung, höre auf das Handy an mein Ohr zu pressen und lege auf. Wäre das am Ende der Leitung Simon gewesen, wäre ich wahrscheinlich dran geblieben. Aber meine Hand zittert nicht über seinem Kontakt, und sie löscht auch nicht seine Nummer. Ich lösche die Nummer meines Stiefvaters, der es sich nach zehn Jahren zugetraut hat, sich mal zu melden und sein Mitleid zu zeigen, dass er eigentlich gar nicht hat. Natürlich streitet er ab, dass es seine Schuld war was passiert ist. Aber ich weiß es besser, und meine Mutter auch, auch wenn sie ihm das nie gesagt hat. Auch wenn sie sich nie getraut hatte, etwas gegen ihn zu sagen.

Ich kann es irgendwie verstehen, ich selbst hatte so viel Angst vor ihm dass ich die Option besser fand, auf der Straße als bei ihm. Und es hatte nicht mal jemand gemerkt, alle dachten ich wäre einfach nur nach dem Spielen nicht duschen gegangen, und wäre deshalb so dreckig. Niemand hätte gedacht. dass ich so schmutzig war weil ich auf den Straßen Hamburgs aufgewachsen war, und es dort nun einmal keine Luxusgüter wie Duschen gab.

Wenn es gut lief, hatte jemand mich in ein Hotel gebracht oder junge Frauen hatten mich mit nachhause genommen, aus Mitleid. Aber das wollte ich meistens gar nicht, denn auf der Straße warst du automatisch das Opfer von allen, wenn du mehr Luxus hast. Dort zählt es nicht ob du ein Kind bist oder ein Erwachsener, ein Mann oder eine Frau, und aus welchem Grund du auf der Straße bist. Niemand interessiert sich für deine Geschichte, du bist auf der Straße. Das ist das einzige was die Leute wissen wollen.

Irgendwann hatte eine Lehrerin mich angesprochen. Aber nicht weil meine Noten schlecht waren, oder sonstiges, denn ich hatte die Schule geliebt und hatte gerne gelernt. Die Schule und die Noten sind das einzige was mir eine bessere Zukunft bereiten konnten, und daher habe ich mir viel Mühe gegeben und habe versucht das beste rauszuholen.

Sie hatte mich angesprochen, weil meine Eltern nie bei einem Elternabend oder sonstiges waren, und sie mich zuhause nie an traf. Ich war damals 14 und habe gesagt dass ich wahrscheinlich nur nicht zuhause war und alles gut seie. In ihren Augen hatte ich die Skepsis gesehen, aber sie konnte mich nicht dazu zwingen, ihr die Wahrheit zu sagen. Und gerade als ich dachte, meine Situation kann nicht besser werden, und als ich aufgeben wollte, kam Mark.

Fixed (Pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt