Vier Monate darauf
Langsam blätterte ich eine weitere Seite des Buches um, welches auf meinem Schoß lag. Eine sanfte sommerliche Brise kräuselte sich auf dem eingezäunten Stück Wiese, auf dem ich saß. Es lag genau vor einem großen, hellblau gestrichenem Haus, auf dessen Veranda ein paar kleine Kinder saßen und malten. Um mich herum tummelten sich einige Jugendliche. Einige spielten Fußball, andere genossen einfach den lauen Sommerabend.
Ich saß gegen einen schattenspendenden Baum gelehnt und las still in einem dicken Roman. Meine Augen schweiften konzentriert über die schwarzgedruckten Zeilen, welche mich immer tiefer in ihren Bann zogen. Vor meinem inneren Auge konnte ich die zwei Protagonisten meines Buches sehen, wie sie zusammen auf einer bewachsenen Lichtung saßen und redeten.
Leider wurde meine schöne Ruhe gestört, als plötzlich ein Ruf durch den Garten hallte. "Hey, Kids!" Katherine, eine der Betreuerinnen des Heimes, in welchem ich seit einigen Monaten lebte, stand auf den Stufen der Veranda und winkte. "Essenszeit!"
Sobald sie das gesagt hatte, begannen schon die ersten Kinder auf das Haus zu zu rennen. Die beiden Jungs, die gerade noch Fußball gespielt hatten, ließen ihren Ball achtlos liegen und spurteten auf die Veranda zu. So war es immer, wenn es hier im Heim Essen gab. Vor allem bei den kleineren Kindern.
Auch ich überlegte einige Sekunden, ob ich aufstehen sollte und mir etwas zu essen holen sollte, doch entschied mich dann dagegen. Es war immer so unfassbar laut im Essensaal und großen Hunger hatte ich auch nicht. Ich hatte heute Mittag schon etwas gegessen und ich war immer noch daran gewöhnt unregelmäßig und wenig zu essen. Langsam widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder meinem Buch, während sich der Garten langsam aber sicher leerte.
Es war vielleicht eine Minute vergangen und ich war schon wieder den Zeilen meines Buches verfallen, als ich plötzlich wieder gestört wurde. "Alea?" Katherines Stimme war nun näher als zuvor. Sie stand in Mitten den Gartens und sah zu mir hinüber. "Kommst du?" Langsam bewegte die braunhaarige Frau auf mich zu. Ihre runde Brille lag tief auf ihrer Nase.
"Hab' keinen Hunger." murmelte ich und sah vorsichtig von meinem Buch auf. Nun stand die Betreuerin vor mir. "Wirklich? Du hast doch heute Mittag schon kaum etwas gegessen." Ihr braunen Augen waren nicht tadelnd, sondern eher ein wenig besorgt. Als Antwort zuckte ich lediglich mit den Schultern. "Und gefrühstückt hast du auch nicht, Alea." Es wunderte mich immer wieder aufs Neue, wie genau sie im Blick hatte, wie viel ich aß, obwohl hier in diesem Heim gute dreißig Jugendlich lebten.
"Gewohnheit." murmelte ich und sah wieder auf mein Buch. Trotz der Zeit, die ich nun schon hier war, war ich nicht sonderlich gesprächig. Ich hatte mich niemandem gegenüber hier richtig aufgewärmt. Seit man mich von Lillian weggeholt hatte, sprach ich mit kaum einem.
"Okay, Süße, machen wir es so." Katherine hatte sich mir gegenüber hingekniet und lächelte mich sanft an. "Du kannst für jetzt hierbleiben und wenn du später Hunger bekommst, gibst du mir Bescheid, okay?" Ihr war bewusst, dass ich sie nicht nach Essen fragen würde, doch es war eine nette Geste. Ich nickte, während ich wieder zu ihr aufsah. "Danke." murmelte ich leise.
Noch einmal lächelte Katherine mir zu und erhob sich dann. Sie drehte sich um und ließ mich alleine im nun leeren Garten zurück. Ich sah der Betreuerin mit den braunen Korkenzieherlocken noch ein wenig nach, bis ich endlich wieder auf mein Buch sah. Nun, da es so still hier draußen war, hörte ich das sanfte Rascheln des Baumes über mir. Das gelbe Sommerkleid mit den kleinen weißen Blumen, das ich trug, schmiegte sich durch den sanften, lauwarmen Wind an meine Beine.
So viel Stille war ungewohnt hier im Heim, da eigentlich ständig jemand um dich herum war. Meistens konnte ich den Lärm nicht leiden, der durch die vielen Kinder hier entstand, doch manchmal war er ganz angenehm. Es war eine Abwechslung zu dem, was ich von meinem ehemaligen Zuhause gewohnt war. Dort war es oft unfassbar still gewesen, außer meine Mutter war zuhause gewesen, dann war die Ruhe sofort wie weggeblasen gewesen.
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A Flicker of Hope
Romans"Hab keine Angst." Seine starken Arme legten sich um meinen Körper und hielten ihn fest, als wäre er etwas besonderes. Etwas, das er beschützen müsste. - Fünfzehn Jahre lebte Alea bei ihrer gewalttätigen Mutter und deren cholerischen Ehemann, bis...