Gegen Abend begann es zu regnen. Das Wasser reinigte die Erde und spülte auch die Nachwehen meiner Erinnerung hinfort. Maxime befand sich irgendwo im Haus. Seine Nähe war allgegenwärtig. Ich spürte ihn, dachte ihn jederzeit zu hören, doch nach dem Frühstück hatte er sich mir nicht erneut gezeigt. Das war in Ordnung. Er hatte mir den Morgen gewidmet. Ich hatte ihm mein Leid aufgebürdet und hatte seine Nähe genossen. Jeden Tag gab er mir mehr, als ich mir selbst gern eingestand. Es war schon schwierig genug mir nicht mehr einzureden, dass alles gut war. Es war nicht alles gut. Meine Narben waren verschorft und Maxime hatte alles wieder aufgerissen. Ich hatte innerlich so stark geblutet, wie der Regen gegen das Haus prasselte. Hart war es herausgeschossen und hatte den festsitzenden Dreck in meiner Seele entfernt. Gleichzeitig hatte er auch sämtliche Verletzungen behandelt, bis die Blutung gestillt gewesen war und die Wunden verschlossen waren. Ich hatte nicht geahnt, wie schlecht es mir tatsächlich ging. Just in diesem Augenblick verstand ich, wie gut ich im Verdrängen war, wie gut ich im Schauspielern war.
Ich lauschte dem Rasseln, dem Donnern, dem Grollen. Der Geräuschpegel zog mich in einen Sog, der auch meine Gedankengänge stoppte, sodass ich mich völlig der Laune der Natur hingab. Ich starrte in den Wald und wünschte mir mit diesem zu verschmelzen. Wie einfach musste es sein, von anderen Menschen abgeschottet zu sein. Die Dämmerung setzte ein und der Mond blitzte bereits zwischen den dunklen Wolken hervor. Die Scheibe blieb vom Regen unberührt. Genau wie ich wurde das Glas von einer Überdachung beschützt. Nur die Kälte konnte von der Scheibe nicht ferngehalten werden, während ich vom Haus in Wärme gehüllt wurde.
Ich musste nicht seinen Schritten lauschen, um seine Anwesenheit zu bemerken. Ich spürte ihn bereits am Ansatz der Treppe. Die Stufen knarzten unter seinem Gewicht. Ich drehte mich nicht herum, dennoch wusste ich, dass er bereits das Ende der Treppe erreichte. Maxime musste mich nicht suchen. Er konnte sein Überwachungssystem nutzen, daher war ihm genau bewusst, wo ich mich befand. Ohne ein bewusstes Signal gesandt zu haben, griffen meine Hände zu meinen Haaren und lösten den Pferdeschwanz. Gemächlich flocht ich mir einen lockeren Zopf, sodass ich mit Leichtigkeit die Maske überziehen konnte. Das Stückstoff ließ ich noch um meinen Hals baumeln. Mir war nicht danach das Ding in diesem Moment überzuziehen. Blitze zerrissen das Himmelszelt. Das Wetter war zu schön zum Wegsehen. Lautlos nahm Maxime seinen Platz hinter mir ein. Er gab mir keinen Befehl. Gemeinsam standen wir vor der Fensterfront und blickten dem Gewitter entgegen. So fühlte es sich auch zwischen uns an. Es war ein nie endendes Unwetter, das jeder für sich anders interpretierte.
Ich zog meine Arme aus der Verschränkung und ließ sie an meinen Seiten herabbaumeln. Deutlich spürte ich seinen Atem in meinem Nacken, trotzdem reagierte mein Körper zu meiner Verwunderung nicht mit Erregung. Der peitschende Wind, das rasselnde Wasser und die Hitze seines Körpers lullten mich in absolute Geborgenheit ein. Nichtsdestotrotz übte er eine unheimliche Anziehung auf mich aus. Maxime schwieg weiterhin und ließ mich diesen Moment genießen. Er schien mir derweil genug zu vertrauen, dass ich ihn nicht ungefragt ansähe. Vielleicht spürte er auch meine Angst, die neu geschaffene Sicherheit dieses Hauses verlassen zu müssen.
Seine warmen Hände legten sich auf meine Schultern. Wie ein Anker zog er mich aus meinem Sog zurück in die Realität. „Soll ich die Maske aufziehen?", stellte ich ihn vor die Wahl. Ich wollte wenigstens das Gefühl haben, es selbst entschieden zu haben. Das ich nicht wirklich gegen ihn ankam, spielte in diesem Moment keine Rolle. Manchmal reichte einem einfach nur der Gedanke, selbst für seine Situation verantwortlich zu sein. „Bleib so stehen. Ich vertraue dir", beantwortete er meine Frage.
Sanft knetete er meine Haut. Meine Schulter entspannten und der Kopf fühlte sich nicht mehr so schwer an. Merkwürdigt, ich hatte meine Verspannung nicht bemerkt, ehe er mich mit seinen Händen bearbeitete. „Lass es mich nur nicht bereuen, Adriana", warnte er mich leise. Zaghaft formte sich ein Lächeln in meinem Gesicht. Wie könnte ich nur seine Regeln vergessen? Es gab nicht viele und er hatte mich zu Genüge an jede einzelne davon erinnert. Ich trat einen Schritt zurück und lehnte mich gegen die Hitze seines Körpers. Mit einem Seufzen auf den Lippen schloss ich die Augen. Seine Wärme übertrug sich auf meinen Körper und umhüllte mich in Sicherheit. Es war so einfach mit ihm und doch so kompliziert. Setzte mein Denkvermögen aus, gehorchte ich ihm mit Wohlwollen. In diesen Momenten fiel jeglicher Schmerz der Vergangenheit von mir. Ich fühlte mich frei von jeglichen Ketten. Wenn Maxime allerdings nicht in der Nähe war, zweifelte ich an mir selbst. Während der Zeit seiner Abwesenheit verstand ich nicht, wie ich mich einem fremden Mann mit Leichtigkeit hingeben konnte. Ich konnte mir meine extreme Lust nicht erklären. In der Vergangenheit hatte ich Vergleichbares bisher nicht erlebt. Lag es daran, dass ich ihn nicht sehen konnte?
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Blindly Fallen
RomanceAdriana, du kannst mich riechen. Du kannst mich hören. Du wirst mich definitiv auf dir spüren. Ich werde dich beherrschen. Wenn du die Maske herunter nimmst, ist das Spiel vorbei. Bist du bereit , die Kontrolle abzugeben? Bist du bereit, deine...